Filmfestivals als kulturelle Kontaktzone – Potenziale für Branche und Kino

© Skadi Loist

Der Text basiert auf einer Keynote zum Branchentreff der Dresdner Filminstitutionen und der  Mitteldeutschen Filmnacht im Rahmen des FILMFEST DRESDEN am 15.07.2021

 

Bei einem Branchentreff im Rahmen eines Filmfestivals über die Bedeutung von Filmfestivals zu sprechen, scheint fast schon wie ein Preaching to the converted. Sie sind zweifelsohne bereits von der Bedeutung von Filmfestivals für die Branche und das Kino überzeugt, sonst wären sie sicher nicht hier. Dennoch, es geht und ging seit einiger Zeit ein Raunen durch die Branche. Nicht zuletzt im Kontext der unsicheren Zeiten während – und prognostisch nach – der Corona-Pandemie. Wie soll und wird es weitergehen mit dem Film, dem Kino und den Festivals?

Bereits vor dem Einschnitt durch die pandemie-bedingten Lockdowns haben sich verschiedene Interessengruppen und AGs gebildet, um eine breite Diskussion über die Film- und Kinolandschaft anzustoßen. Befeuert wurden diese Diskussionen u.a. von der anstehenden Novelle des Filmfördergesetzes. Aber auch von tiefgreifenden Veränderungen in der Branche. Dazu gehört vor allem der digitale Wandel, der alle Bereiche von Produktion bis zur Auswertung betrifft. Ein Teil davon sind die sogenannten Streaming Wars und die sich in dieser Folge veränderten Produktionsbedingungen für neue Formen, neue Inhalte und auch die Auseinandersetzungen um gestaffelte Auswertungsfenster.

Neben den langjährig aktiven Gruppen wie AG Kurzfilm, AG DOK und Branchenverbänden wie dem Bundesverband Regie (BVR) und der Produzentenallianz befassen sich seit 2019 auch zwei neue Verbände in der Branche mit einem breiteren Begriff von Filmkultur, in dem auch die Filmfestivals einen prominenteren Stellenwert bekommen. Im April 2019 entstand der Hauptverband Cinephilie (HVC)[1], in dem Filmkritiker*innen, Kinomacher*innen, Festivalmacher*innen, Verleiher*innen und Filmvermittler*innen Gewerke übergreifend zusammenkommen. Im Juli 2019 traf sich das erste Mal die AG Filmfestival, der inzwischen 120 Filmfestivals in Deutschland angehören. Ziel ist die gemeinsame Arbeit hin zu einer vielfältigen, florierenden Filmkultur.

Filmfestivals, so stellt die AG Filmfestival fest, „stellen in Deutschland eine in Umfang und Wirkung ernstzunehmende Auswertung deutscher Filme im Kino dar und ihr Anteil an der Kinoauswertung deutscher Produktionen wird sich in den nächsten Jahren weiter erhöhen. Im Gegensatz zu den schwindenden Zuschauerzahlen im Kino verzeichnen Filmfestivals eine stetig zunehmende Nachfrage. Im Bemühen, die Kinoauswertung deutscher Filme attraktiver zu machen, kommt Filmfestivals eine zentrale Bedeutung zu.“[2]

 

Was genau ist es, das Filmfestivals ausmacht? Wie fügen sie sich ein in die größere Filmbranche und Filmkultur?

Branchenevents zum Film sind so alt wie das Medium selbst. Erste Filmmessen, Leistungsschauen und Filmästhetische Kongresse gibt es seit über 100 Jahren. Die Form der Filmfestivals, wie wir sie heute kennen, existiert seit der Entstehung der Filmfestspiele in Venedig als Teil der Kunstbiennale 1932. Als kulturelle Events der Nachkriegszeit waren Filmfestivals für Völkerverständigung wie Marktinteressen gleichermaßen interessant. Ende der 1960er, in der Zeit der politischen Umbrüche und sozialen Bewegungen konfrontierten Gegenentwürfe kuratorischer Programme entlang von politischen und ästhetischen Gesichtspunkten die markt- oder diplomatie-getriebene Auswahl der A-Festivals. Gleichzeitig differenzierte sich die Festivallandschaft aus, kleinere spezialisierte Events entstanden.

Mostra di Venezia al Palazzo Ducale 1947/ Italian Wikipedia., Public domain, via Wikimedia Commons

 

Filmfestivals waren damals wie heute nicht nur eine glamouröse Werbefläche für die Studios und kommerzielle Kinoauswertung, sondern etablieren ihre Stellung als kulturelle Kontaktzonen. Und zwar auf mehreren Ebenen. Festivals dienen als Schaufenster einer globalen Kunstform, die Kinematographien der Welt werden dem lokalen Publikum präsentiert. Themen, Inhalte, Stars, Stile treten miteinander in Austausch – in einer Art Olympischer Spielen der Filmkunst.

Diese Kontaktzone ist ebenso wichtig für die Filmschaffenden, die auf diesen Festivals mit ihren internationalen Kolleg*innen in künstlerischen und kulturellen Austausch treten konnten. Historisch ist hier auch der Austausch gegensätzlich gelagerter kultureller Systeme zwischen Ost und West nicht zu vernachlässigen.

Jenseits des Blockbuster-Kinos ist der Festivalbereich eine wichtige Kontaktzone für Filmkultur jenseits der kommerziellen Mainstreamfilme. Der Festivalbereich arbeitet mit symbolischem Kapitel durch Auswahlprozesse, Selektion in bestimmte Programmschienen, mit Jurys und Preisen, mit einer gezielten Aufmerksamkeitsökonomie. Roter Teppich, Presseberichte und Filmpreise generieren Aufmerksamkeit jenseits von millionenstarken Marketing Budgets.

Festivals sind Orte für den Austausch. Den Austausch zwischen Filmschaffenden und dem Publikum. Sie bieten einen spezifischen, zugeschnittenen Rahmen für Filme mit direkter Zielgruppenansprache per Programmheft, mit Filmgesprächen. Sie leisten hier auch eine Form der Filmvermittlung.

Filmfestivals kümmern sich seit langem auch um den Nachwuchs. Sowohl auf Seiten des Publikums mit speziellen Angeboten für junge Zuschauer*innen mit Kinder- und Jugendschienen oder eigenen Festivals. Als auch auf Seiten der Filmschaffenden mit Angeboten für Debutfilme. Die Bandbreite reicht von einer Art internationaler Filmakademie wie bei Berlinale Talents, über Studierendenfilmfestivals wie Sehsüchte bei uns in Babelsberg, was dieses Jahr sein 50. Jubiläum feiert, bis hin zu Events wie FiSH, dem Filmfestival im Stadthafen Rostock, oder die Werkstadt des Jungen Films, die sowohl autodidaktische Jugendliche wie Filmstudierende bis 26 Jahre unterstützen und vernetzen.

Aus Branchensicht übernehmen Filmfestivals inzwischen immer mehr Netzwerk- und Vermittlungsfunktionen. Hier trifft sich die Branche zum Austausch. Festivals sind ein Anlass zum Zusammenkommen, Sprechen, Verhandeln über den Status der Filmkultur und der Branche und um zukünftige Pläne zu entwickeln. Viele Festivals professionalisieren diese Kontaktzonen in Branchentreffs, Panels oder Präsentationen. Teils auch gezielt in spezifischen Formaten entlang der Produktions- und Auswertungskette: bei Script labs, Projekt Pitches, Co-Production Markets, Redakteurs-Brunchs, Produzent*innentreffs, AG Meetings, und so weiter. Festivals sind wichtige Termine im Branchenkalender.

Gegenüber dem viel beschriebenen Tod des Kinos und den verschiedenen Wellen des „Kinosterbens“ wächst die Festivallandschaft weiter. Das hängt mit einer Ausdifferenzierung der Formate, Inhalte und Zielgruppen zusammen. Aber auch mit dem Bedienen von Filmkultur. Die Hauptaufgaben von Filmfestivals ist ihre kuratorische Tätigkeit. Kuratieren kommt vom Lateinischen curare, „sorgen für, sich kümmern um“. Beim Kuratieren werden Filme sorgfältig ausgewählt, platziert, gerahmt, um ihre bestmögliche Wirkung zu entfalten. Diese Rahmung ist auch Teil einer zielgerichteten Ansprache von Publika.

Auf diese Art können Filmfestivals eine Vielzahl von Filmen präsentieren, eine Aufmerksamkeit herstellen, Cinephile ins Kino locken. Oft gelingt dies – zumindest in Deutschland – aufgrund einer Mischung aus kultureller Förderung, oft in Form kurzfristiger Projektförderung, und prekärer (Selbst)Ausbeutung von Festivalarbeiter*innen in saisonalen Verträgen. (Mehr zum Thema Arbeitsbedingungen bei deutschen Filmfestivals findet sich in der jüngst erschienen Auswertung der Fair Festival Award-Umfrage,[3] in der im letzten Jahr Festivalarbeiter*innen nach ihren Arbeitsbedingungen und der Bewertung ihrer Arbeitsgeber befragt wurden.) Diese prekären Bedingungen ermöglichen – paradoxer Weise – eine vielfältige Filmkultur, die nicht primär von Marktlogiken und Auswertungszahlen abhängen. Hier können auch sperrige, experimentelle, politische, ruhige, kurze, dokumentarische, queere und andere wichtige Filme gezeigt werden, denen ein (kommerzielles) Potenzial von Kinomacher*innen oder Verleiher*innen abgesprochen wird. So helfen Festivals eine breite Filmkultur und einen Diskurs über Film zu unterstützen.

Darüber hinaus fungieren Filmfestivals inzwischen als eigene Auswertungsfenster. Mit zunehmendem Marktdruck der Kinos, die wenig kuratorische Arbeit machen können, weil das Programm von den Majors diktiert wird, oder nicht genügend freie Leinwände vorhanden sind, bilden Filmfestivals einen essentiellen Bestandteil der Filmkultur als Kontaktzone zwischen Film, Filmschaffenden und Publikum. Mit der Entrichtung von Screening Fees sind Festivals inzwischen auch ein realer Faktor in der finanziellen Auswertung, wenn Kinos und Verleiher keine kuratorische Programmarbeit und Filmbuchung mehr machen (können).

Eines meiner Forschungsprojekte untersucht die Zirkulation von Filmen im Festivalnetzwerk.[4] Dabei schauen wir uns den Festivallauf von Filmen aus dem Programm von sechs Startfestivals an: drei A-Festivals (Berlin, Cannes und Toronto) und drei spezialisierte Festivals (Clermont-Ferrand für Kurzfilm, IDFA für Dokumentarfilm und Frameline für queer Cinema). Wir betrachten das Jahr 2013 und verfolgen den Lauf von 1.727 Filmen (jeder Länge und Gattung).[5] Heute ist hier nicht der Ort für eine detaillierte Auswertung. Ich möchte dennoch einige Tendenzen einfließen lassen, die wir aus den Daten – explizit auch für Kurzfilm – ablesen konnten.

Für die Film in unserem Sample 2013, die auf IMDb findbar sind, stellen Festivals für 1% der Langfilme und 55% der Kurzfilme die einzige Auswertung dar. Laut unserer Umfrage, in der auch eine Auswertung über digitale Plattformen angegeben wurde, waren es immer noch 13% der Kurzfilme, die ausschließlich auf Festivals ausgewertet wurden.[6]

Im Durchschnitt bewegen sich Filme 14 Monate lang im Festivalnetzwerk, für Kurzfilme fällt dieser Lauf mit 11 Monaten kürzer aus.[7] Durchschnittlich bereisten unsere Filme 10 Festivals und 5 Länder, für Kurzfilme lag der Durchschnitt mit 4 Festivals und 3 Ländern deutlich darunter. (Hier ist jedoch eine Verzerrung der Daten durch die Struktur von IMDb nicht auszuschließen.)

Neben der Länge und geografischen Verteilung des Festivallaufs, ist auch die Gender-Verteilung der Filmschaffenden interessant. Grundsätzlich ist der Anteil an Filmen, die von einem weiblichen Team realisiert wurden, im Kurzfilmbereich deutlich höher. In den Programmen unserer Sample-Festivals liefen um die 30% der Kurzfilme von Frauen, im Langfilmbereich variiert dies nach Festival teils stark (13% Cannes, 31% Frameline, insgesamt um die 22%). Auch für Aspekte wie Diversität auf der Leinwand und hinter der Kamera sind Kurzfilme und die Festivals wichtige Innovationstreiber.

Im letzten Jahr, auch bedingt und verstärkt durch den Stillstand im Festivalreigen und temporäre Kinoschließungen aufgrund der Corona-Pandemie, haben verschiedene Akteure begonnen, die Strukturen zu überdenken. In einer Zeit, wo vom Ende des Kinos und dem Sieg der Streamingplattformen gesprochen wird, mussten Filmfestivals während der Zwangspause, noch einmal genau analysieren, was ihre eigene Form ist.

Im Aufstellen von Online-Events ließ sich zeigen, dass auch gestreamt ein Publikum für diese Filme zu finden ist. Oberhausen und DOK.fest München konnten im Frühjahr 2020 wie auch 2021 hohe Zugriffzahlen und neue Besucher*innengruppen vermelden. Andere Festivals haben solidarische Formen der Zusammenarbeit mit Kinos, Filmschaffenden und Verleiher*innen festgeschrieben. Sei es durch eine Deckelung von Filmtickets entsprechend der Kinoauslastung, um nicht das gesamte Publikum für eine spätere Auswertung abzuschöpfen (Filmfest Hamburg). Oder neue Beteiligungsmodelle von Filmschaffenden und Verleihern bei der Auswertung durch das Festival-Streaming.

Trotz erfolgreicher Online-Nutzung, sind doch immer wieder schmerzlich die Limitationen der online Form des Austauschs sichtbar geworden. Teil eines typischen Festival-Diskurses ist der gleichzeitige und zufällige Austausch mit anderen. Die typischen Festivalfragen „was hast du schon gesehen? Hat dir der Film / das Programm gefallen? Kannst du was empfehlen?“ lassen sich in einer Online-Umgebung schlecht stellen. Die vorab aufgezeichneten Filmgespräche sind sicher informativ für das Publikum, doch ein wirklicher Diskurs und Austausch zwischen Filmschaffenden, Film und Zuschauer*innen entsteht so nicht. Die Filmschaffenden bleiben ohne Feedback zu ihrem Werk, und das Publikum hat wenig Gefühl von Live Event, Exklusivität und der raum-zeitlichen Spezifik von Programm und Darbietung.

Dem Bericht zur Kinonutzung folgend, den die FFA vorletzte Woche veröffentlicht hat,[8] bin ich optimistisch, dass das Publikum wieder in die Kinos kommt – und ich möchte hinzufügen in die Festivals. Auch nach der Pandemie und bei vermeintlich knappen Förderkassen sollten Branche und Förderer die Filmfestivals weiterhin in ihrer Funktion als kulturelle Kontaktzonen zwischen Filmschaffenden, Film und Publikum ernst nehmen.

[1] https://www.hvcinephilie.de/

[2] https://ag-filmfestival.de/

[3] Der Bericht zur Umfrage findet sich unter https://festivalarbeit.verdi.de/umfrage/++co++1614aa8a-e609-11eb-8afa-001a4a160100

[4] Das BMBF-geförderte Projekt „Filmzirkulation im internationalen Festivalnetzwerk und der Einfluss auf globale Filmkultur“ läuft noch bis Frühjahr 2022 und hat erste Ergebnisse bereits auf der Projektseite veröffentlicht: www.filmcirculation.net.

[5] Derzeit erweitern wir unser Sample auf die Jahre 2011-2017 und verfolgen so 10.146 Filme auf ihrem Weg durch das Festivalnetzerk. Die Daten stammen aus der Auswertung von Release-Daten aus IMDb, sowie einer Online-Umfrage bei Produzent*innen und Lizenzinhabern für unsere Filme.

[6] Vgl. http://www.filmcirculation.net/2020/01/09/first-results-from-our-survey-of-filmmakers-on-how-their-films-traveled-through-festivals/

[7] Wobei Kurzfilme aus dem expliziten Kurzfilmfestival Clermont-Ferrand auch 14 Monate unterwegs waren. Betrachtet nach Genre waren Dokumentarfilme am kürzesten (11 Monate) und Animationen am längsten (15) unterwegs.

[8] FFA-Filmförderungsanstalt. 2021. Kinobesucher*innen 2020. Strukturen und Entwicklungen auf Basis des GfK-Panels. Berlin. https://www.ffa.de/kinobesucherinnen-2020.html.