„Wir glauben an den Kurzfilm“
Interview mit Giona Nazzaro und Eddie Bertozzi vom Film Festival Locarno

MADAR TAMAME ROOZ DOA MIKHANAD (Lobende Erwähnung Locarno Pardi di Domani, 2022) © Hoda Taheri

Das Festival von Locarno, eines der wichtigsten internationalen Filmfestivals überhaupt, setzt sich traditionell für den Kurzfilm ein. Mit seinen nationalen und internationalen Kurzfilmwettbewerben, aber auch durch die im Februar online stattfindende Shortsweek. Als Giona Nazzaro 2021 als künstlerischer Leiter angetreten ist, hat er dieses Engagement noch verstärkt. Zusammen mit Eddie Bertozzi, der die Kurzfilm-Sektion Pardi di Domani verantwortet, hat er einen neuen Wettbewerb ins Leben gerufen für Filme bereits etablierter Regisseur*innen: Cordi d’autore. shortfilm.de traf die beiden kurz vor dem diesjährigen Festival zum Gespräch über ihren Begriff vom Kurzfilm und ihre Bemühungen, ihn in das gesamte Festival-Ökosystem einzubinden.

 

 

 

Frédéric Jaeger: Von Filmemacher*innen sagt man, ihr zweiter Film sei oft der persönlichste. Stimmt das auch für eure zweite Ausgabe des Festivals? Verrät das Programm viel über euch und euren Blick auf die Welt?

 

Eddie Bertozzi, Leiter des Auswahlkomitees von Pardi di domani und Berater für die Wettbewerbssektionen © Locarno Film Festival

Eddie Bertozzi: So ist es. Wir waren sehr glücklich mit dem Programm, das wir letztes Jahr zusammengestellt haben. In dieses Jahr sind wir mit dem daraus gewonnenen Selbstvertrauen, aber auch mit dem Druck gestartet, dieses Niveau zu halten oder gar zu toppen. Beurteilen müssen das andere, aber wir sind sehr stolz auf das Ergebnis. Und tatsächlich glaube ich auch, dass wir uns als Programmer zu erkennen geben in der Auswahl. Im Team diskutieren wir oft darüber, wie sehr unser Programm nicht nur unser Interesse am Kino spiegelt, sondern unsere Werte. Wir präsentieren, was uns dringlich erscheint und wichtig ist, was wir brauchen, um herausgefordert zu werden oder was wir weiter erforschen wollen, indem wir es auf der großen Leinwand zusammen mit anderen sehen. Insofern ist unsere Arbeit sehr politisch.

 

Frédéric: Wie ist es bei dir, Giona, würdest du deinen Psychotherapeuten zum Festival schicken, um sich euer Programm anzuschauen?

 

Giona A. Nazzaro, Künstlerischer Leiter © Locarno Film Festival

Giona: Ich hatte nie einen Psychotherapeuten, dafür komme ich zu sehr aus der Arbeiterklasse. Ich bin sehr glücklich mit der Arbeit des Auswahlkomitees, das für das Kurzfilmprogramm zuständig ist. Sie haben unter der Leitung von Eddie eine besondere Form der Zusammenarbeit gefunden. Die Ergebnisse, die sie im letzten Jahr erzielen konnten, sprechen für sich. Nicht zuletzt war es beeindruckend, wie gut die Filme von den internationalen Kurzfilmfestivals und der Community aufgenommen wurden. Kurzfilme sind unheimlich wichtig in Locarno, da sie mit allen anderen Teilen unseres Festivals zusammenhängen, den Academys, dem Förderprogramm Open Doors, der neu gegründeten Residency und so weiter. Insofern ist der Kurzfilm wirklich ein Grundstein des gesamten Gebäudes, das das Festival ausmacht. Und ich freue mich sehr, dass das von außen auch so wahrgenommen wird.

 

Frédéric: Woraus besteht die Verbindung zwischen dem Kurzfilm und den Industry-Aktivitäten des Festivals?

 

Giona: Locarno legt einen großen Wert auf Aus- und Fortbildung. Ob durch die Industry Academy, die Filmmakers Academy, die Critics Academy und weitere Programme, helfen wir Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich in der Filmbranche einbringen wollen, ihre ersten Schritte zu gehen. Bei Open Doors arbeiten wir mit Filmschaffenden aus unterschiedlichen Regionen, um ihnen zu helfen, ihren Ansatz vom Kino und ihre Vision weiterzuentwickeln. Mit Locarno Kids stärken wir die Vermittlung von audiovisuellen Medien für Jüngere. Bei allen Programmen spielt der Kurzfilm eine große Rolle, oft ist er der Ausgangspunkt.

Eddie: Den Kurzfilm-Teams, die nach Locarno kommen, um ihre Filme zu zeigen, bieten wir eine ganzheitliche Erfahrung. Sie sollen nicht nur ihren Film präsentieren und dann wieder gehen. Den Regisseur*innen sage ich, dass es in Locarno weniger um ihren aktuellen Film geht als um ihren nächsten. Sie nehmen an diesem Festival zusammen mit der Branche, mit Cinephilen und mit Kritiker*innen teil. Was wir versuchen, ist Verbindungen zwischen ihnen herzustellen. Das ist für uns ganz zentral. Auch für uns als Programmer*innen: Locarno ist ein Festival, das sich Entdeckungen widmet. Wir zeigen in allen Langfilmreihen unheimlich viele Debüts. Insofern ist es für uns besonders wichtig, neue Talente zu finden und ein Netzwerk herzustellen, das es uns ermöglicht, ihre nächsten Schritte zu verfolgen.

 

Frédéric: Ihr habt zudem einige Veranstaltungen für die Branche beim Festival wie Talks und Roundtables. Gibt es Teile des Rahmenprogramms, die sich besonders mit dem Kurzfilm beschäftigen?

Eddie: Locarno hat keinen Markt wie die Berlinale oder Cannes, aber doch eine Reihe an Veranstaltungen für die Branche. Letztes Jahr haben wir festgestellt, dass wir mehr Programme oder Aktivitäten speziell für Kurzfilmmacher*innen brauchen. Mit Unifrance haben wir eine Kooperation lanciert, um es nicht nur den Filmemacher*innen zu ermöglichen, nach Locarno zu kommen, sondern auch Teilen der französischen Branche. Außerdem bieten wir Aktivitäten an, um Regisseur*innen und Produzent*innen zu unterstützen und zu vernetzen, die Hilfe oder Förderung suchen für ihren nächsten Film. Und wir diskutieren darüber, wie wir diese Angebote in den nächsten Jahren noch ausbauen können.

 

Frédéric: Locarno ist kein spezialisiertes, sondern ein generalistisches Festival mit vielen unterschiedlichen Reihen. Muss man da eine Balance herstellen, um dem Kurzfilm Aufmerksamkeit zu verschaffen inmitten der anderen Programme?

Giona: Nicht wirklich, denn . In diesem Jahr zeigen wir zum Beispiel die eigens hergestellten Jubiläumskurzfilme „Postcards from the Future“. Dann haben wir mit „Stamps“ noch kürzere Kurzfilme durch unsere Kooperation mit der Schweizer Post, für die eine junge Gruppe sehr enthusiastischer Schweizer Filmemacher*innen beauftragt wurde, koordiniert von Cyril Schäublin. Der Kurzfilm ist Teil der DNA von Locarno.

Eddie: Es gibt in Locarno eine große Tradition des Kurzfilms und wir müssen unseren Vorgänger*innen dankbar sein dafür, dass sie sie aufgebaut haben. In der Tat ist Locarno generalistisch, aber der Kurzfilmwettbewerb Pardi di Domani ist ein Teil des Ganzen mit einem neuen Programm an jedem Tag und er findet nicht an den Rändern statt.

Im Team haben wir auch über dieses Wort, das Du verwendest, diskutiert: generalistisch. Wir wollten unsere eigene Interpretation davon geben: Wir haben ein diverses Publikum, mit unterschiedlichen Interessen, und wollten das im Programm reflektieren. Wir wählen 40 Kurzfilme aus und wollen, dass sie das ganze Spektrum abdecken, vom Animationsfilm über dokumentarische und experimentellere Ansätze bis zu stärker narrativen Formen. Das ist auch eine interessante Übung für uns als Programmer*innen. Denn natürlich hat jeder seinen eigenen Geschmack, seine eigene Cinephilie. Doch wir wollen nicht in Geschmäckern und Vorurteilen feststecken. Weswegen es auch wichtig ist, im Team zu arbeiten. Wir sind vier Personen im Kurzfilm-Team, das sind vier Köpfe und Herzen. Die Diskussionen, die die Filme bei uns auslösen, sind sehr inspirierend, und das ist es, was generalistisch bedeuten sollte.

 

PARADISO, XXXI, 108

Frédéric: Letztes Jahr habt ihr eine neue Reihe innerhalb der Sektion Pardi di Domani eingeführt, die Corti d’autore. Was hat euch dazu bewogen?

Giona: Die Idee war ganz einfach: Wir wollten nicht länger auf die Jagd nach Kurzfilmen spannender Regisseur*innen gehen, nur um dann umständlich nach einem Platz in unserem Schedule für sie zu suchen. Zudem wollten wir hervorheben, dass es viele etablierte Filmemacher*innen gibt, die es erfrischend finden, mit der kürzeren Form zu experimentieren.

Eddie: Wichtig war uns auch, gegen ein Vorurteil anzukämpfen. Natürlich stimmt es, dass der Kurzfilm ein Übungsplatz für junge Talente ist, daran ist auch nichts verkehrt. Doch es gibt auch Künstler*innen, die sich der kurzen Form komplett verschreiben und es gibt etablierte Langfilm-Regisseur*innen, die eine Geschichte im Kopf haben, die sich für einen Kurzfilm eignet und die sie so umsetzen. Oftmals landen die Filme dann in einem obskuren Außer-Konkurrenz-Programmslot irgendwo am Ende eines großen Festivals und kaum einer sieht sie. Das ist natürlich sehr frustrierend. Zum Erfolg von Corti d’autori gehören die überaus positiven Reaktionen der Filmemacher*innen, die gefühlt haben, dass ihre Arbeit bei uns wertgeschätzt wird.

 

Frédéric: Im Gegensatz zu vielen anderen Festivals laufen bei Euch Filme der unterschiedlichen Kurzfilmwettbewerbe in gemeinsamen Programmen. Was steckt dahinter?

Eddie: Innerhalb von Pardi di Domani haben wir drei Wettbewerbe: Neben Corti d’autore haben wir zwei Nachwuchswettbewerbe, einen internationalen und einen Schweizer, bei dem die Filmemacher*innen noch keinen Langspielfilm gemacht haben dürfen. Wir wollten keine Programm-Ghettos schaffen. Was für uns Sinn macht, ist Filme miteinander sprechen zu lassen. Unsere Programme sind nicht thematisch organisiert, aber es gibt Gemeinsamkeiten, sei es ein Gefühl oder eine Idee.

Frédéric: Giona, als du letztes Jahr über die Programmarbeit gesprochen hast, hast du betont, wie wichtig es ist, bei einem Festival Spaß zu haben. Inwiefern stimmt das auch für Kurzfilme und wie vermittelt ihr im Kurzfilmprogramm diese Lust am Kino?

Giona: Spaß mit Kurzfilmen zu haben ist vielleicht noch einfacher als mit Langfilmen, weil die Energie, die in die Herstellung von Kurzfilmen fließt, weniger kontrolliert wird. Man kennt das: Überlegungen darüber, wie ein großes Budget in Zaum gehalten wird, die Treue einem Drehbuch gegenüber, das gefördert wurde, und so weiter. Der Kurzfilm ist die Absichtserklärung von potentiellen Filmemacher*innen und das Vergnügen an der Arbeit ist sehr sichtbar.

Die Auswahl von Pardi di Domani ist eine besonders faszinierende und unterhaltsame Reise. Die unterschiedlichen Formen, die Energien, die Perspektiven, die Geschichten, die Ansätze und und und, das alles sorgt für einen unheimlich großzügigen Möglichkeitsraum. Wenn Menschen vom Ende des Kinos sprechen, dann möchte ich behaupten, dass sie nie in den freudigen Genuss gekommen sind, der von allen Seiten auf einen einprasselt, wenn man die Auswahl der Pardi di Domani schaut.

Ich könnte mir übrigens nicht vorstellen, diese Arbeit zu machen, wenn Spaß nicht dazu gehörte. Spaß ist für mich der Schlüsselfaktor, der kreative Energien freisetzt. Menschen, die bei ihrer Arbeit Vergnügen haben, fühlen sich akzeptiert und respektiert. Deswegen gehört das für mich zusammen.

 

Frédéric: Kurzfilme sind allgegenwärtig, insbesondere wenn man all die kurzen Bewegtbildformate im Internet als Kurzfilme betrachtet. Wo steht eurer Meinung nach der Kurzfilm heute?

Eddie: Die Transformationen des Filmmarktes haben dabei geholfen, dass Kurzfilme sichtbarer werden. Alle großen Streaming-Plattformen haben eine Auswahl an Kurzfilmen im Programm. Das ist etwas Neues, denn im Kino sind wir heutzutage nicht daran gewöhnt, Kurzfilme zu sehen. Deswegen stehe ich den Entwicklungen sehr positiv gegenüber.

Giona: Das Kino wurde kurz geboren, man hat einen Nickel dafür bezahlt, um im Jahrmarkt eine Kurzfilmrolle zu sehen. Wenn wir sprechen, konzentrieren wir uns oft auf das, was uns direkt umgibt. Obwohl ich kein TikTok nutze, höre ich, dass auch dort viel Kreativität zu finden ist. Ich akzeptiere die Tatsache, dass Menschen, die heute mit dem Filmemachen beginnen, vielleicht keinen Film von Godard gesehen haben, um einen Namen zu nennen, aber deren Vertrautheit mit der Filmsprache so scharf und tief ist, dass eine neue Form von Cinephilie oder besser Imagophilie am Werk ist.

Eddie versteht es als Auszeichnung, dass bei der Premiere von „First Time“ im letzten Jahr jemand gerufen hat: „Das Kino ist tot!“. Diese Anekdote zeigt, dass Filme noch immer in der Lage sind, die Sensibilität von Menschen zu berühren und so lange das passiert, ist das ein sehr gutes Zeichen. „First Time“ hat, wie man in unseren Kreisen sagt, zwei Mal die Welt umkreist.

 

FIRST TIME [The Time for All but Sunset – VIOLET] (Lobende Erwähnung Locarno Pardi di Domani, 2021) © Nicolaas Schmidt

Frédéric: „First Time“ war eine der Entdeckungen des letzten Jahres, und tatsächlich ist der Film sehr weit gereist. Reisen deutsche Kurzfilme mehr als Langfilme?

Eddie: Wir haben diesen Witz im Team, dass wir eines Tages einen deutschen Wettbewerb in Pardi di Domani aufmachen sollten, weil wir so viele herausragende Einreichungen aus Deutschland erhalten. Tatsächlich sind deutsche Kurzfilme sehr stark, dabei gibt es eine riesige Bandbreite, von den sehr narrativen bis hin zu den sehr experimentellen Formen. Insofern gehört Deutschland zu den interessantesten Regionen für den Kurzfilm.

 

Frédéric: Giona, meinst du deutsche Langfilme könnten etwas von deutschen Kurzfilmen lernen?

Giona: Ich bin nicht in der Position, diese Frage zu beantworten. Wenn man sich die Filme anschaut, die wir in unsere Langfilmwettbewerbe einladen, dann wird unsere Position sehr deutlich. Es ist offensichtlich ein großer kultureller Komplex, der viele Ebenen hat, die berücksichtigt werden müssen. Aber es ist klar, dass etwas passiert zwischen den Kurzfilmen und den Langfilmen. Ich weiß nicht, was das ist, aber ich sehe das Ergebnis.

 

 

siehe auch unser Beitrag Die Vielfalt widerspiegeln: Deutsche Kurzfilme auf dem Filmfestival von Locarno