Till Nowak

Von der Kunst, die Welt von außen zu betrachten

Ein kauziger alter Mann steht auf dem Balkon. Die Aussicht ist trist, der Rauch unzähliger Fabrikschlote verdunkelt den Himmel. Fürsorglich wässert der Mann eine einzelne Blume, die in einem rostigen Kasten den schlechten Bedingungen trotzt. Ein zeppelinartiges Gefährt nähert sich und lässt ein Paket in den dafür vorgesehenen Postschacht fallen – alles vollautomatisch und ohne jeden menschlichen Kontakt. Als der Mann das Paket vorsichtig öffnet, stellt er mit einiger Verwunderung fest, dass in den dunklen Tiefen des kompakten Kastens eine Miniaturwelt verborgen ist, die seiner eigenen Umgebung zum Verwechseln ähnlich sieht. Fabrikschlote, Hochhäuser, schlechte Luft. Als er bei dem Versuch, sich das Ganze genauer anzusehen, mit einer Taschenlampe die Ecken des Pakets ausleuchten will, strahlt ihm plötzlich das gleißende Licht direkt ins eigene Fenster. Mit Erschrecken realisiert er, dass er die eigene Welt nicht nur von außen ansehen, sondern auch verändern kann. Es dauert lange, bis er sich durchringt, aus dieser Einsicht Konsequenzen zu ziehen, aber schließlich nimmt er eine kleine Schaufel, löst damit die Miniaturstadt vorsichtig vom Boden und bettet sie neben der Blume in die Erde. Nachdem er die Blume anstelle der Stadt im Kasten platziert hat, schließt er den Deckel und betrachtet sein Werk. DELIVERY (2005) ist eine andere Art der Schöpfungsgeschichte, die Till Nowak 2005 mit Motion Capturing Verfahren als Diplomarbeit im Fach Medien-Design an der Fachhochschule Mainz produziert hat.

DELIVERY – http://www.framebox.com/delivery.htm

Dass sein Film in den folgenden Jahren auf mehr als 200 internationalen Festivals gezeigt werden undüber 45 Preise einheimsen würde, hätte der damals 25-jährige nie gedacht. Tatsächlich, so erinnert sich Nowak, hätte er generell nicht besonders viel über DELIVERY nachgedacht, sondern eher aus dem Bauch heraus gearbeitet. Bei einem Film, der in nur 6 Monaten weitgehend allein und ohne großes Budget entstanden ist, sei das natürlich besser möglich als bei einer Produktion, die mit viel Geld und großem Team arbeitet. Manche der Bauchentscheidungen haben sich im Nachhinein allerdings als taktisch geschickt erwiesen. So hat nicht nur die universelle und pointiert erzählte Geschichte, sondern auch die „Sprachlosigkeit“ des Helden und damit die internationale Anschlussfähigkeit aus DELIVERY einen Festivaldauerbrenner gemacht – und aus Till Nowak einen weltweit geschätzten Kurzfilmer.

Dabei hat sich der eloquente Rheinländer vor DELIVERY eher als Nerd mit ausgeprägter Vorliebe für bewegte Bilder gesehen. Erst durch die große Resonanz aus der Filmszene sei er überhaupt auf die Idee gekommen, selbst ein Filmemacher sein zu können. Trotzdem – und obwohl er seitdem weitere erfolgreiche Kurzfilme gedreht hat – stellt sich Nowak immer noch lieber als Digital Artist vor. Diese Berufsbezeichnung beschreibe einfach besser das Spektrum seiner Arbeit, nicht zuletzt, weil er sich nach DELIVERY erst mal mehrere Jahre mit Auftragsarbeiten als Animationsspezialist beschäftigt hat. In diesem Rahmen entstanden zum Beispiel Animationssequenzen für TV-Produktionen (z.B. die Dokumentationen ZUM DRITTEN POL und FLUCHT IN DIE FREIHEIT) und verschiedene Werbespots.

http://www.framebox.com/delivery.htm

Als Ausgleich entwickelte Nowak parallel dazu verschiedene eigenständige Kunstprojekte, darunter viele Lichtinstallationen. 2006 begann er mit dem Projekt EDGES (2006-2008), einer Reihe von Lichtinstallationen, die mit der Raumgeometrie arbeiten. In einer Art Choreographie für Ecken und Kanten erweckt Nowak Innenräume mit gezielt gesetzten Lichtimpulsen zum Leben. Im Ansatz ähnlich, aber deutlich komplexer war das Projekt RED AND BLUE (2009), eine 20-minütige Performance, in deren Verlauf eine ortspezifische digitale Animation auf die Außenhaut der historischen Festung Castel dell’Ovo in Neapel projiziert wurde. Nowak ist ein Pionier im Bereich dieser sogenannten „Mapped Projections“ und nutzt die Architektur sowohl als Ausgangspunkt wie als Projektionsfläche.

http://www.framebox.com/creations/3d/redandblue/index.htm

Es verwundert kaum, dass es bei so vielen Projekten ein paar Jahre dauerte, bis Nowak mit THE CENTRIFUGE BRAIN PROJECT (2011) wieder einen Kurzfilm realisierte. Der knapp 7-minütige Film wirkt zunächst wie die trockene Dokumentation einer wissenschaftlichen Studie zur Erforschung der Auswirkungen der Fliehkraft auf den menschlichen Geist. Ein Wissenschaftler beschreibt seine Versuche, durch die Entwicklung ausgeklügelter Karussells die Lernfähigkeit der Testpersonen zu stimulieren. Immer gewagter werden die Konstruktionen, von denen der Film sowohl Baupläne als auch sehr realistisch wirkende Aufnahmen bei laufendem Betrieb enthält. Nicht zufällig mündete Nowaks Recherche zum Thema Fliehkraft gleichzeitig auch in ein Kunstprojekt. THE EXPERIENCE OF FLIEHKRAFT ist eine Serie von Konstruktionsplänen der Vergnügungsmaschinen, die im Kurzfilm die heimliche Hauptrolle spielen. Die technischen Zeichnungen wurden in limitierter Edition gedruckt und waren unter anderem bei der Media Art Biennale in Seoul und auf der Transmediale Berlin zu sehen. Tatsächlich trägt die Existenz dieser detaillierten Baupläne enorm dazu bei, dass das, was später im Film zu sehen ist, so realistisch erscheint.

Der zweite (scheinbare) Garant für Realität ist – wie im TV-Dokumentarfilm üblich – die Existenz des allwissenden Experten. Dr. Nick Laslowicz beschreibt mit stoischer Miene die Reaktionen der Probanden, die in kleinen, bunten Kabinen temporeich durch die Luft geschleudert wurden.  Der weiß bekittelte Versuchsleiter betont, die „Hirnaktivität der Testpersonen übersteige die der am Boden zurück gebliebenen um mehr als 30%“. Probleme gäbe es so gut wie keine, mal abgesehen von dem einen Mal, wo eins der Karussells „ein bisschen zu dicht an einem Gebäude platziert wurde.“ Mit einem Gesichtsausdruck, der deutlich macht, dass sich ein großer Geist von solchen Nebensächlichkeiten nicht beeindrucken lassen darf, geht Laslowicz ohne ein weiteres Wort über dieses Thema hinweg. Mit Verlust ist zu rechnen.

THE CENTRIFUGE BRAIN PROJECT – gesamter Film: www.icr-science.org

Noch heute muss Nowak schmunzeln, wenn er erzählt, dass er bei Vorführungen im Kino sehr genau beobachten kann, an welchem Punkt die Zuschauer beginnen, am Realitätsgehalt der Filmerzählung zu zweifeln.

„Erst lachen meistens nur ein paar Einzelne, aber mit jedem der vorgestellten wahnsinnigen Fahrgeschäfte werden es mehr Zweifler. Spätestens, wenn es um das Riesenrad geht, das für eine Umdrehung 14 Stunden braucht, ahnen die Meisten, dass da etwas nicht stimmen kann“,

so Nowak. Doch bis heute, wo der Film über die Hamburger Kurzfilmagentur online verfügbar ist und inzwischen fast 4 Millionen Mal angeschaut wurde, erreichen den Regisseur auch immer wieder durchaus ernst gemeinte Anfragen, wo man mit den gezeigten Karussells fahren kann. Offensichtlich hat seine Methode, Realfilmszenen von handelsüblichen Fahrgeschäften mit digitalen Animationen subkutan zu „infizieren“, um eine Geschichte zu erzählen, die sich nach und nach immer weiter von der Realität entfernt, sogar noch besser funktioniert als geplant.

„Ich wollte eigentlich gar keinen Fake-Dokumentarfilm drehen, sondern habe mich gefragt, was passiert, wenn man sich unseren ganz normalen Alltag mit dem Blick eines Außerirdischen ansieht.“

Schließlich bezahlen in der Realität tatsächlich Menschen auf dem Jahrmarkt Geld dafür, dass sie sich in knallbunte Maschinen setzen, die sie – garniert mit einem Soundtrack aus dumpfen Discobeats – mit maximalem Schwung in die Luft schleudern. Was wäre, wenn dahinter nicht allein die Lust an der Zerstreuung, sondern ein wissenschaftlicher Auftrag stehen würde? Könnte die Wirklichkeit vielleicht sogar viel skurriler und surrealer sein als Nowaks Vision?

Die Frage nach der Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn hat den Regisseur bis heute nicht losgelassen. Mit seinem neuesten Film DISSONANCE (2015) findet er eine meisterhafte Antwort darauf. Seine Premiere erlebte der knapp 20-minütige Film, in dem Realbilder und Animation, Phantasie und Realität auf vielfache Weise miteinander verknüpft werden, auf der diesjährigen Berlinale. Im Mittelpunkt steht ein obdachloser Klavierspieler, dessen Welt nachhaltig aus den Fugen geraten ist. Man spürt fast körperlich, wie der Mann zwischen der Logik der Außenwelt und seiner eigenen (psychotischen) Innenwelt zerrieben wird, scheint er doch der Einzige zu sein, der realisiert, dass es jenseits seines realen Alltags als obdachloser Leierkastenspieler eine weitere, kugelförmige Welt gibt, in der er ein hervorragender Pianist ist, der jeden Tag ein Konzert für seine Tochter gibt. Doch die Kugelwelt ist nicht stabil – immer wieder bricht die Realität ein (z.B. in Form seiner Ex-Frau, die ihm den Umgang mit der Tochter verbieten will) und gefährdet sein mühsam aufrecht erhaltenes Selbstbild. Die Kugelwelt beginnt sich zu zersetzen und Till Nowak zeigt diesen Prozess der Destabilisierung und Auflösung, indem er mit digitalen Animationen die Zerbrechlichkeit der inneren Realität sichtbar macht.

Trailer DISSONANCE www.framebox.com/dissonance/index.htm

DISSONANCE teilt sich in drei Kapitel: im ersten, komplett animierten Teil erleben wir den Musiker ganz in seiner an M.C. Escher erinnernden, inneren Kugelwelt, die zusehends durch den Einbruch der Realität ihre Integrität verliert. Im zweiten Teil mischt Till Nowak schließlich Animation und Realfilm mittels verschiedener Techniken, die er bereits in THE CENTRIFUGE BRAIN PROJECT und anderen Clips erprobt hat. So wird der Kopf des Schauspielers Roland Schupp, der den Pianisten verkörpert, durch eine realistische, aber übergroße Version seiner selbst ersetzt, der wie ein Fremdkörper auf dem kleinen Leib zu sitzen scheint. Die realen Straßen und Wege, auf denen sich der Schauspieler bewegt, beginnen immer wieder ab zu bröckeln oder sich wie bedrohliche Wellen gegen die Menschen zu richten. Im dritten und letzten Teil kommt das Ineinanderfließen von Animation und Realfilm schließlich zum Stillstand als sich der Pianist mit einem beherzten Schritt aus der Kugelwelt in die reale Welt übertritt. In dem Maße, in dem diese ihren Schrecken verliert, verändert sich auch der Protagonist auf überraschende Weise…

„Ich wollte mir selbst und der Welt mit DISSONANCE beweisen, dass man die beiden sehr unterschiedlichen Bereiche Animation und Realfilm, die im „normalen“ Filmbusiness nach ganz unterschiedlichen Gesetzen funktionieren, durchaus sinnvoll zu einem Ganzen zusammen fügen kann. Ich wollte zeigen, dass sie sich sogar perfekt ergänzen und zu einem Film werden können.“
Till Nowak

Zwei Impulse scheinen immer wieder in Till Nowaks künstlerische Praxis auf: der Wunsch, mit digitalen Mitteln die reale Welt zu manipulieren und die Angewohnheit, kulturelle Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Dabei bewegt er sich beständig zwischen den Bereichen Film, Kunst und (Auftrags-)Design (für Musikvideos, Werbeclips oder Animationen für andere Filmprojekte). Natürlich sei es eine Herausforderung, die Balance zwischen diesen drei Polen zu halten, besonders, da alle drei Bereiche ganz unterschiedlichen Gesetzen gehorchen.1 Dennoch bleibt Till Nowak dabei, dass sich der dreifache Spagat zwischen den Welten für ihn durchaus lohnt. Solange man sich nicht im Versuch verliere, den sehr unterschiedlichen Konventionen zu genügen, sondern einfach bei sich und dem eigenen künstlerischen Ausdruck bleibt, sei diese mehrfache Verankerung eine perfekte Überlebensstrategie, die einen davor bewahre, zu viele künstlerische Kompromisse zu machen. Seit dem Frühling 2015 erprobt Till Nowak, ob diese Strategie auch in Übersee funktioniert – er ist kürzlich von Hamburg nach Los Angeles gezogen, um dort seinem Traum von der gegenseitigen Durchdringung der Filmwelten ein kleines Stückchen näher zu kommen.

Alle Infos zu Till Nowak und seinen Filmen:

http://www.framebox.com/

Filmografie:

2005 DELIVERY

2011 THE CENTRIFUGE BRAIN PROJECT

2015 DISSONANCE

1 Während die Kunstwelt auf Exklusivität setzt, Auflagen am liebsten streng limitiert und damit Zugänglichkeit reglementiert, ist in der Filmwelt eine möglichst hohe Zuschauerzahl das wichtigste Zeichen des Erfolgs. Während Nowak bei einer Auftragsarbeit in der Regel alle Rechte abgibt, dafür aber zumindest gut bezahlt wird, ist die Frage, ob sich die Arbeit an einem künstlerischen Projekt finanziell auszahlt, immer eine Wette auf die Zukunft. Der Markt für Kurzfilme schließlich ist so überschaubar, dass er kaum zur Refinanzierung der Auslagen taugt.