Rückkehr ins Kino? Streamer mischen die Filmindustrie auf und verteilen die Karten neu

Analyse

Netflix Lifestyle; Photo Credit: Netflix

 

Um das Jahr 2000 haben die ehemals Big Six, jetzt Big Five nach der Fusion von Disney und Fox, also die sechs großen Hollywood Filmstudios mehr als 200 Kinofilme im Jahr herausgebracht. 2018 waren es nur wenig mehr als 100 Filme. Nicht nur die Zahl der produzierten Filme ist gesunken, sondern auch deren Vielfalt. Darunter waren kaum noch Independent-Filme, kaum Arthouse-Filme und kaum Filme im mittleren Feld gediegener Unterhaltung.

 

Dabei wurde keineswegs weniger Geld investiert. Es wurde nur immer mehr Geld in Blockbuster-Produktionen gepumpt – das meiste Geld in Action und Fantasy-Sequels, Franchises und Remakes. Die Folge: allein zwischen 2007 und 2011 fielen die Gesamtgewinne der Big Six um 40 Prozent. Die meisten Sequels der vergangenen Jahren „bombed“, wie das Wall Street Journal schrieb. Das Remake von BEN HUR (MGM), zum Beispiel, kostete $100 Millionen und spielte in der ersten Woche nur $11 Millionen ein. Heute machen die Filmstudios weniger als 10 Prozent des Gewinns ihrer Muttergesellschaften aus.

 

Das ICON – Netflix Headquarter in Los Angeles, Photo Credit: Netflix

Der größte Teil von Warner Brothers‘ großem historischen Studiogelände am Sunset Boulevard ist heute von Netflix belegt. Das erste Gebäude, ICON genannt, bezeichnete die New York Times als „Townhall of Hollywood“[1]. Zur Zeit ist ein Block weiter EPIC im Bau. Netflix mietet derzeit 100.000m[2] im Großraum Los Angeles – fast alles Büroflächen!

Niemand könnte genau sagen, was Netflix heute eigentlich ist (und morgen sein wird): eine Technologiefirma, ein Medienunternehmen, ein Filmverleih, ein Film- oder Fernsehstudio, ein Content-Produzent? Auf diese Frage antwortete der Chief Product Officer Greg Peters gegenüber Vanity Fair: weder eine „content company or a tech company“. Vielmehr sei Netflix eine „entertainment company that merely uses technology to tell stories in a more compelling way“[3].

 

Vanity Fair vermutet, dass diese Bezeichnung eine Art Schutzbehauptung ist – ähnlich wie Facebook umgekehrt behauptet kein Medienunternehmen zu sein, um sich nicht deren ethischen und rechtlichen Standards unterwerfen zu müssen. Als Unterhaltungs- oder Medienunternehmen distanziert sich Netflix von jenem Silicon Valley, das zum Synonym für Big Data und die Auswertung von Nutzerdaten – Missbrauch inklusive – durch Algorithmen geworden ist. Tatsächlich ist dies aber die Grundlage des Geschäfts von Netflix und Ursache des Erfolgs. Der einzige Unterschied zu den ‚Bösen‘: Netflix verkauft keine Nutzerdaten an Werbefirmen, sondern nutzt sie selbst, um seine Ankäufe und neuerdings die Produktion von „original content“ zu steuern. Netflix hat wohl die ausgefeiltesten Analyseinstrumente unter allen Video-on-Demand-Anbietern. Das Ausspionieren der Vorlieben und Gewohnheiten seiner Abonnenten dient selbstverständlich nur dem guten Zweck, den Kunden besser beraten zu können und geben zu können, was sie wirklich wollen.

 

 

Kurzfilm als Snack

 

Deshalb laufen in Interviews mit Netflix-Macher Fragen nach der zukünftigen Schwerpunkten und Programminhalten regelmäßig ins Leere. Letztes Jahr fragte die Frankfurter Rundschau (dankenswerterweise) auch: »Wird Netflix künftig mehr kurze Geschichten machen?«. Greg Peters antwortete: »Wir experimentieren weiterhin mit verschiedenen Formen. Ein Weg, den wir verfolgen möchten, sind aber tatsächlich kürzere Geschichten, snackartigere Inhalte. Wir haben schon einige Projekte abgedreht und werden sehen, wie sehr die Leute davon angezogen werden«. Das »wir werden sehen« bezieht sich sicher auf die Analyse der Rückmeldungen aus den mehr als 2000 „Taste Communities“, in die der Netflix-Algorithmus seine Kundschaft eingeteilt hat.

 

 

Künstliche Intelligenz

 

Wie ein Programm aussieht, wenn die geballte Künstliche Intelligenz auf die Abonnenten angesetzt wurde, zeigt ein Beispiel vom Dezember 2018. Das Programm war gespickt mit Buzzword-Titeln wie „Christmas Inheritance“, „El Camino Christmas“, „The Christmas Chronicles“, „A Christmas Prince“, „The Princess Switch“ und „A Christmas Prince: The Royal Wedding“[4]. An Weihnachten 2019 kommen übrigens ähnliche Filme, darunter nicht nur Netflix Originals, sondern auch einige Disney-Produktionen. Letzteres wohl zum letzten Mal, denn Disney startet im November seinen eigenen VoD-Kanal und zieht Filme von Disney und Fox aus dem Netflix-Katalog ab.

 

Disney ist nicht das einzige Studio, das wegen neuer Geschäftsmodelle, Lizenzen bei Netflix kündigt. Dies ist einer der Hauptgründe für den Wandel des Unternehmens vom Filmversender (ehemals eine Videothek mit Lieferdienst) zum Filmproduzenten.

 

 

Netflix-Filme im Kino

 

2018 investierte Netflix insgesamt 8,5 Milliarden Dollar (geliehenes Geld) in Content und veröffentlichte mehr als 80 Eigenproduktionen. Das sind fast so viele Filme, wie alle oben genannten Studios zusammen. Folglich wurde Netflix auch Anfang diesen Jahres als Mitglied der Motion Picture Association of America (MPAA – der Club der Big5/6) aufgenommen. Gleichzeitig kündigte das Unternehmen an verstärkt eigene Spielfilmproduktionen ins Kino zu bringen, bevor sie online angeboten werden.

 

Das aktuelle Flaggschiff ist ein neuer Film von Martin Scorcese: „The Irishman“ wird im September beim New York Film Festival seine Premiere haben und soll ab 1. November in die Kinos. Dies stellt sich aber als schwierig heraus. Wie schon bei „Roma“ sperren sich die großen Kinoketten. Anstelle des angebotenen 27-Tage-Auswertungsfensters verlangen sie 90 Tage Kinoauswertung bevor der Film online geht.

 

Zu den 10 weiteren Filmen, die noch dieses Jahr ins Kino kommen, gehören ein neuer Film von Steven Soderbergh, der eigentlich dem Filmgeschäft den Rücken zugedreht hat, eine Eddie-Murphy-Komödie, der erste lange Animationsfilm von Jérémy Clapin (Kurzfilm „Skizein“), der Cannes-Preisträger „Atlantique“ von Mati Diop und ein Bio-Pic von Fernando Meirelles über Papst Benedikt (Joseph Ratzinger).

 

Hauptgrund für die Kinoaktivitäten sind die Hoffnungen auf einen Oscar, einen Emmy Award und andere Kinofilmpreise. Dahinter steckt aber auch die Erkenntnis, dass das Kinopublikum immer noch eine gewisse Meinungsmacht hat und viele VoD-Nutzer zugleich Kinogänger sind.

 

Egyptian Theater, Hollywood 1922 © gemeinfrei

Außerdem lernt Netflix von den traditionellen Filmstudios, dass eine Rückbindung der Kundschaft mit Ereignissen und Orten im wirklichen Leben vorteilhaft ist. Hierzu passt auch, dass Netflix mit der American Cinematheque über den Kauf und gemeinsamen Betrieb des traditionsreichen Uraufführungskinos Egyptian Theatre am Hollywood Blvd. verhandelt. Ohnehin könnte Netflix gedrängt werden, statt wie bisher Kinos zu mieten, direkt in Kinos zu investieren, falls die Positionen der großen Kinoketten bezüglich der Auswertungsfenster hart bleiben.

 

 

Auch MUBI und andere Streamer investieren in Kinofilme

 

Amazon produziert schon etwas länger als Netflix Kinospielfilme und hat dafür 2015 das Filmstudio Amazon Studios gegründet. Amazon setzt dabei auf bekannte Regienamen und Autorenkino. Am erfolgreichsten war bislang „Manchester by the Sea“. Zu den Produktionen der letzten Jahre gehören Woody Allens „Wonder Wheel“, Spike Lees „Chi-Raq“, Lynne Ramsay’s „You Were Never Really Here“ und das Remake „Suspiria“. Letzterer lief in den USA in nur wenigen Kinos, dort aber sehr erfolgreich.

 

In Großbritannien wurde „Suspiria“ (Regie: Luca Guadagnino) in mehr als 100 Kinos gestartet und zwar im Verleih des VoD-Anbieters MUBI. Bemerkenswert, dass kein traditioneller Filmverleih Interesse fand! Diese Woche gab MUBI übrigens bekannt, dass die Weltrechte an Luca Guadagninos Kurzfilm „The Staggering Girl“ erworben wurden.

Hierzulande ist MUBI verständlicherweise nur als Video-on-Demand-Plattform bekannt. Doch in Großbritannien ist MUBI seit 2016 (später auch in den USA) als Filmverleiher auf dem Kinomarkt. Zum Verleihkatalog gehören unter anderem die „Arabian Nights“ von Miguel Gomes“ (P/F/D/CH), “On Body and Soul (Körper und Seele)” von Ildikó Enyedi, Ali Abbasis “Border” und Jean-Luc Godards “Le Livre d’Image (Das Bilderbuch)“. Diesen Monat zeigt MUBI „Leto“ von Kirill Serebrennikov in den britischen Kinos.

 

MUBI begründete diese Ausdehnung des ursprünglichen Kerngeschäfts mit der Liebe zum Kino und der Erfahrung, dass sich Einsätze von Filmen im Kino positiv auf die spätere Online-Nachfrage auswirken.[5]

 

Die erste Filmproduktion, an der sich MUBI beteiligte, war die transgender Liebesgeschichte „Port Authority“. Anlässlich der Premiere in Cannes gab Efe Çakarel (CEO) bekannt, MUBI habe vor weitere 10 Filmprojekte zu entwickeln und sich im kommenden Jahr an der Produktion von zwei oder drei Filmen zu beteiligen.

Çakarel erwähnte auch, dass einige der MUBI-Filme im Kino profitabler waren als online …

 

 

Konvergenz

 

Die Hinwendung vieler Streamer zum Kino ist schon überraschend und hätte man vor wenigen Jahren nicht vermutet. Umgekehrt aber wandeln sich auch Traditionsunternehmen der Filmwirtschaft und integrieren Streaming-Dienste in ihr Geschäftsmodell. So geht der eigene VoD-Dienst Disney+ im November mit einem riesigen Katalog an Eigenproduktionen an den Start. Zunächst einmal in fünf Ländern (USA, CAN, NL, AUS, NZ)[6], anschließend weltweit. Andere Filmstudios sind bereits an Plattformen beteiligt, wie z.B. Time Warner mit HBO now, oder gerade auf dem Sprung.

Kevin Mayer (Chairman, Direct-to-Consumer) stellt am 23.8.19 auf der D23 EXPO die VoD-Plattform Disney+ vor – The Ultimate Disney Fan Event (The Walt Disney Company/Image Group LA)

Dies spricht eher für eine Konvergenz der Film-, Medien- und Technologieunternehmen – also eine Verschmelzung von Hollywood und Silicon Valley, um es metaphorisch auszudrücken.

Deutlich wird dies auch am Personal, das in den jeweiligen Firmen arbeitet oder gearbeitet hat (s.a. „Jeffrey Katzenberg kündigt Premium Short Form Video-Plattform Quibi an“). Da heuern Filmstudios ehemalige Mitarbeiter von Kabelfernsehsendern an, Streaming-Plattformen suchen Programmierer, die bei Google und Facebook Erfahrungen gesammelt haben, Amazon stellt Filmproduzenten ein und ehemalige Filmproduzenten oder Kinobetreiber gründen VoD-Plattformen.

 

Disruption?

Manchen VoD-Plattformen sieht man die Kinoaffinität unmittelbar an, wenn sie zum Beispiel ihr Angebot nach Kinomodellen strukturieren – mit kuratierten Programmen oder virtuellen Eintrittskarten (s. hierzu auch unser Artikel Kooperationen mit VoD-Anbietern).

 

Aussagen wie „Streaming-Plattformen verdrängen oder zerstören das Kino“, wie sie je nach Standpunkt defensiv oder affirmativ, gerne verbunden mit dem Modewort disruptiv, jetzt überall geäußert werden, stimmen deshalb so nicht. Immer mehr Studien[7] belegen, dass die beiden Formen – der individuelle Konsum von Filmen auf Bildschirmen und die Kulturpraxis Kino sich nicht kannibalisieren müssen, sondern komplementär ergänzen können.

 

Es bleibt aber die Drohung im Raum, dass ‚zivile‘ Firmenkulturen verfallen und sich skrupellose Vertreter des schnellen Geldes, das mit Big Data und Algorithmen verdient werden kann, durchsetzen. Insofern ist es dann doch ein Unterscheid, ob man ein eigentümergeführtes Filmstudio vor sich hat oder ein börsennotiertes IT-Unternehmen.

 

Was die neuen VoD-Plattformen angeht, so wird in naher Zukunft erst mal der Konsument ordentlich durch Unüberschaubarkeit irritiert. Außer den genannten Playern sind nämlich noch Apple TV+, Facebook und Instagram am Start und Microsoft entwickelt seine XBox als Filmabspielplattform. Filmlizenzen wechseln immer schneller ihre Eigentümer und werden zwischen Plattformen und Distributionskanälen hin- und hergeschoben. Der Filmliebhaber wird in Zukunft nicht mehr so leicht seinen Lieblingsfilm finden, und es wird schwieriger sein der Lieblingsserie zu folgen, als einem Hütchenspieler in der Einkaufspassage.

 

Reinhard W. Wolf

 

[1] https://www.nytimes.com/2019/07/14/business/media/netflix-lobby-hollywood.html

[2] https://urbanize.la/post/netflixs-latest-hollywood-building-nears-its-peak

[3] https://www.vanityfair.com/news/2019/03/can-netflix-take-over-the-world-without-turning-evil

[4] https://www.esquire.com/entertainment/movies/g25383267/all-netflix-original-christmas-movies-ranked/

[5] “We’re really committed to theatrical for the films that we buy all rights for – we encourage our current members to go see these films on the big screen,” said Cakarel. “We’ve seen that once we release films theatrical, our audience get excited and we get much higher engagement on MUBI when it goes online. That’s a key insight.” (…)

“Cinemas are here to stay, we really believe in that experience. At MUBI we are not trying to replace cinema – we want to make films more accessible and convenient.

[6] https://www.thewaltdisneycompany.com/new-global-launch-dates-confirmed-for-disney/

[7] zum Beispiel Summary of EY report https://www.natoonline.org/wp-content/uploads/2018/04/EY-NATO-Report-summary-The-relationship-between-movie-theatre-attendance-and-streaming-behavior-2018-04-26.pdf und „Der Kinobesucher 2018“, FFA 2019, S. 72 und S. 77, PostTrak Report (7 Jahre lang 1,25 Mio Zuschauer befragt) USA 2019

 

Bildlegende Beitragsbild: Eingangstür Grauman’s Egyptian Theatre, Hollywood Boulevard, Hollywood, Los Angeles, California, USA, Photo: Andreas Praefcke, 2008; Wikimedia Commons

Aktualisierung: am 29.05.2020 gab die American Cinematheque den Verkauf des Egyptian Theatre an Netflix bekannt.

 

 

 

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