Gruppe Weimar

Kurze Filme für die Kurzen

TELEPORTATION © Gruppe Weimar

TELEPORTATION © Gruppe Weimar

Kinder gucken zu viel Fernsehen. Im Schnitt hocken Zehnjährige pro Tag mehr als 100 Minuten vor der Flimmerkiste. Dabei besteht Konsens darüber, dass derart ausufernder Fernsehkonsum der Entwicklung keineswegs förderlich ist. Aber leider gilt viel zu oft die Devise: je länger, je lieber.

Dabei reichen manchmal schon ein paar Minuten, um einen spannenden, lustigen und dazu noch lehrreichen Kinderfilm zu sehen, der noch lange nachwirkt – auch wenn die Glotze längst ausgeschaltet ist. OUTSOURCING ist so ein Film. Dieser 6-minütige Kurzspielfilm stellt Fragen, die in Zeiten von Arbeitsmangel, steigenden Lebenshaltungskosten und Finanzkrisen allgegenwärtig sind: wie beeinflussen uns wirtschaftliche Zwänge uns im Alltag und was passiert, wenn ökonomische Kriterien alle Entscheidungen bestimmen? Wie effektiv dürfen wir werden, um unsere Menschlichkeit nicht zu gefährden? OUTSOURCING gelingt das Kunststück, diese komplexen Fragen auf ganz spielerische Weise zu stellen und sie für Kinder handhabbar zu machen.

Der Film holt die Kinder da ab, wo sie sich auskennen: am heimischen Frühstückstisch. Doch aus dem gemütlichen Sonntagsfrühstück entwickelt sich unversehens ein Szenario, in dessen Verlauf sich die fünfköpfige Familie zum sprichwörtlichen „kleinen Familienunternehmen“ wandelt, in dem nicht mehr Liebe, Zuneigung und Fürsorge den Umgang miteinander bestimmen, sondern der „Betrieb“ ausschließlich nach wirtschaftlichen Aspekten organisiert wird. So wird die Hausfrau und Mutter von ihrer Familie schlicht und einfach wegrationalisiert und mit sofortiger Wirkung entlassen, weil sich ihre Arbeit nicht mehr rechnet. Die Küche wird auf E-Bay verkauft und auch die kleine Schwester wird nur noch als unwirtschaftlicher Klotz am Bein wahrgenommen und zur Oma abgeschoben. Einzig die Mikrowelle bleibt, um die Grundbedürfnisse zu befriedigen.

Die hier angewendete Formel „Was wäre wenn…?“ ist eine perfekte Methode, um komplizierte Theoriegebäude auf ihre Tragfähigkeit im Alltag zu prüfen. In diesem Fall entlarvt der junge Regisseur Markus Dietrich die Mär von der Effektivitätssteigerung durch Outsourcing als kurzsichtige und menschenfeindliche Praxis, die – wenn überhaupt – nur auf dem Papier Sinn machen kann. Er tut dies – und das ist das Besondere an diesem Film – auf eine sehr einfache und nachvollziehbare Weise, die für Kinder verständlich und deshalb noch lange nicht redundant für Erwachsene ist.

„Wir haben uns überlegt, wie weit eine Familie gehen würde, wenn sie ihr Zusammenleben unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten untersucht“ beschreibt der Nachwuchsfilmemacher die Idee, auf die er durch den von der Kulturstiftung des Bundes initiierten Kurzfilmwettbewerb „Arbeit in Zukunft“ gebracht wurde. Das eingereichte Script von OUTSOURCING , das Dietrich gemeinsam mit Hanna Reifgerst schrieb, überzeugte die Initiatoren des Wettbewerbs, gerade weil es bis dato nur wenige deutschsprachige Filme für Kinder gab, die sich diesem komplexen Thema widmeten. Die Regie des Projekts übernahm Dietrich, der zu diesem Zeitpunkt genauso wie viele seiner Teammitglieder an der Bauhaus Universität Weimar studierte, selbst. 2007 gründete er dann mit seinen KommilitonInnen Hanna Reifgerst und Christiane Schlicht die Filmproduktionsfirma Gruppe Weimar.

Sie setzten sich zum Ziel, mit der Gruppe Weimar Filme für Kinder und Jugendliche zu machen, die spannende, ungewöhnliche Geschichten erzählen und dabei auf Augenhöhe mit ihren ProtagonistInnen bleiben. Um dieses Ziel umzusetzen, arbeitet das feste 3er Team je nach Projekt mit wechselnden Kooperationspartnern zusammen. Entwickelt werden sowohl Spiel- als auch Dokumentar- und Animationsfilme, wobei die fiktionalen Stoffe deutlich überwiegen. Bisher hat sich die Gruppe Weimar vor allem mit kurzen Filmen einen Namen gemacht, momentan stehen aber auch einige Langfilmprojekte auf dem Plan, die sich allesamt im Entwicklungsstadium befinden. Christiane Schlicht erzählt, dass ihre bisherige Konzentration auf Kurzfilme sowohl pragmatische als auch inhaltliche Gründe hat. So ließen sich manche Geschichten für Kinder einfach besser und genauer erzählen, wenn man auf ausufernde Rahmenhandlungen verzichte. Pragmatisch gesehen seien die Hürden für die Finanzierung eines Kurzfilms sehr viel niedriger als im Langfilmbereich, in dem, so Christiane Schlicht, gerade bei Spielfilmprojekten ohne die Beteiligung von Sendern und den großen wirtschaftlichen Filmförderanstalten „gar nichts geht“. Allein: es ist immer noch eine Ausnahme, Filmförderung für ein anspruchsvolles Kinderfilmprojekt zu bekommen, das sich auch vor komplizierten Themen nicht verschließt und mehr Wert auf ein intelligentes Drehbuch als auf die Entwicklung von passenden Merchandisingprodukten legt. Hochqualitative Kinder- und Jugendfilme, die z.B. in skandinavischen Ländern an der Tagesordnung sind, gelten in Deutschland noch immer als wirtschaftliches Risiko – bei Sendern und Förderinstitutionen.

Nachdem OUTSOURCING  als erste offizielle Produktion der Gruppe Weimar sehr erfolgreich auf vielen nationalen und internationalen Festivals gelaufen war (2007 gewann der Film u.a. den Kurzfilmpreis der Friedrich Wilhelm Murnau Stiftung, den dkf-Regieförderpreis und den Camera del Lavoro Award des Internationalen Filmfestival Milano), entstand im Jahr 2008 als nächstes der Kurzspielfilm MEIN ROBODAD – wieder unter der Regie von Markus Dietrich. Für das Drehbuch zeichneten wieder Hanna Reifgerst und Markus Dietrich verantwortlich, die Produktion übernahm erneut Christiane Schlicht. Nach der erfolgreichen Annäherung an die Absurditäten der Ökonomie in OUTSOURCING versuchte sich die Gruppe in MEIN ROBODAD nun an einem ganz anderen, nicht minder komplexen Thema, das ebenfalls auf den ersten Blick kaum für einen Kinderfilm geeignet schien: der Krankheit Parkinson und ihren Folgen für Betroffene und Angehörige.

Zunächst wirkt MEIN ROBODAD wie ein lustiger Science Fiction Film für Kinder. Erzählt wird die Geschichte von Leni und ihrem Vater, der angeblich ein Roboter ist. Er läuft ganz abgehackt, lächelt nicht – und er hat eine Fernbedienung, mit der man ihn steuern kann. Wie ein Spielzeugauto lässt sich der Papa manövrieren und bewegen. Leni findet das ganz normal – nicht so ihre Klassenkameraden Olaf und Franz, die eines Nachmittags Leni und ihren Vater in seiner Garage besuchen, um heraus zu finden, ob Lenis Geschichte stimmt.

Es gibt viel zu lachen in den 8 Minuten, in denen wie im „richtigen“ Science Fiction Film alles auf den dramatischen Höhepunkt zusteuert. Gekonnter Slapstick wechselt sich ab mit kleinen Actionszenen und ganz zum Schluss steht fest: Leni hat nicht gelogen, ihr Vater ist wirklich ein Roboter, denn er hat einen Computer-Chip im Kopf, der mit einer Fernbedienung aktiviert werden kann, denn Lenis Vater hat Parkinson, eine neurologische Krankheit, die nach und nach das Nervensystem zerstört. Die Symptome der umgangssprachlich „Schüttellähmung“ genannten Krankheit wie die lallende Sprache und die Bewegungsstörungen werden häufig als Folge von Alkoholismus gedeutet, so dass die Betroffenen und ihre Familien nicht nur durch die Krankheit selbst, sondern auch durch die negativen Reaktionen der Umwelt diskriminiert werden. Eine Form der Therapie ist das Implantieren eines Gehirnschrittmachers, der das Gehen und Sprechen erleichtert und durch einen kleinen Stromstoß an- und ausgeschaltet wird. Tatsächlich ist Lenis Vater also wirklich ein „Robodad“ und Leni hat sich selbst für diese ungewöhnliche Situation eine kreative Erklärung einfallen lassen – die nicht mal gelogen ist. Das, so betont Christiane Schlicht im Gespräch, ist eine zentrale Anforderung, die die Gruppe an ihre Filmstoffe stellt: „Wir wollen zeigen, dass Kinder ihre Probleme selbst lösen können und dabei keineswegs immer auf die Hilfe von Erwachsenen angewiesen sind.“

Es ist der erklärte Anspruch der jungen Produktionsfirma, Zuschauer aller Alterstufen ernst zu nehmen und sie mit ihren Filmen nicht nur zu unterhalten, sondern zum Mitzudenken heraus zu fordern. Ein Anspruch, der sich nicht unbedingt immer mit der redaktionellen Praxis der großen TV-Stationen deckt, die externe Produzenten angesichts anspruchsvoller Scripts gern dazu auffordern, ihr Anliegen einfacher zu formulieren. Mit der Phrase „machen Sie das mal weniger kompliziert, das verstehen unsere Zuschauer sonst nicht“ werden Filmemacher (nicht nur) im Kinderfilmbereich immer wieder konfrontiert. Auch die Gruppe Weimar hat solche Gespräche mehr als einmal geführt. Bisher wurde keiner ihrer Kinderfilme vom Fernsehen koproduziert. Schlicht bedauert dieses mangelnde Zutrauen der Verantwortlichen ins eigene Publikum, denn sie ist überzeugt, dass alle Zuschauer – egal in welchem Alter – mit der Herausforderung wachsen, sei es in erzählerischer oder formaler Hinsicht.

Ein einfaches Beispiel dafür, wie herkömmliche Erzählformen mit ganz einfachen Mitteln umgekrempelt werden können, bietet der Kurzfilm SAG MIR WO DU STEHST (2003), den Markus Dietrich und Hannah Reifgerst noch im Studium gemeinsam umsetzten. Der Film spielt in der DDR Ende der 80er Jahre und zeigt, wie eine Schülerin durch ihr unangepassten Verhalten in Konflikt mit der Schulleitung gerät. Der Animationsfilm entstand im sogenannten Paint-Over Verfahren, bei dem zunächst die Szenen mit Darstellern an Original Schauplätzen inszeniert und dann das fertige Material am Computer mit Hilfe eines Zeichenbretts übermalt wurde. Mit dieser relativ einfachen Technik erreichen die Filmemacher einen Effekt, der deutlich macht, dass hier keine Ausnahmesituation geschildert wird, sondern dass solche Konfrontationen den DDR-Alltag bestimmten. Diese Studentenarbeit wurde unter anderem beim Festival in Tampere, beim Filmfestival Dresden und beim russischen Animationsfestival KROK gezeigt.

Die DDR, bzw. ihr Ende beschäftigte die Gruppe Weimar filmisch immer wieder. In TELEPORTATION (2009), der im Rahmen des Berlin Today Awards, dem Kurzfilmwettbewerbs des Berlinale Talent Campus entstand, geht es um die historisch nicht unwesentliche Frage, warum die Mauer nun eigentlich gefallen ist. Markus Dietrich, der 2008 am Berlinale Talent Campus teilnahm, hatte sich mit dem einfallsreichen Script zu einem Kinderfilm über den Mauerfall beworben und den Zuschlag bekommen, die Geschichte mit Fördergeldern des Medienboards Berlin-Brandenburg zu produzieren.

Wir schreiben das Jahr 1989: Die Freunde Frederike, Fabian und Jonathan planen in der elterlichen Scheune ein geheimes Experiment. Sie wollen ihren Freund Jonathan nach West-Berlin beamen. Doch das Experiment geht schief und statt des zehnjährigen Jungen sind plötzlich alle anderen Menschen im Dorf verschwunden. Bei der Suche nach den Ursachen sehen sie im Fernsehen Bilder von Menschen, die an der Berliner Mauer hochklettern und mit ihren Trabbis in Richtung Grenze fahren. Die Kinder vermuten, dass sie aus Versehen alle Bewohner ihres Dorfes nach Westberlin gebeamt haben. Sie versuchen, das Experiment zu wiederholen, um ihre Eltern und Nachbarn zu retten.

Mit dieser abenteuerlichen Neuerzählung der Ereignisse vom 9. November 1989 beeindruckte die Gruppe Weimar auch internationale Zuschauer, die vor allem die Selbstverständlichkeit lobten, mit die kindliche Perspektive auf die gleiche Ebene gehoben wird wie die „verbürgten“ historischen Fakten. Seine Weltpremiere feierte der Film während der Eröffnung des Berlinale Talent Campus 2009.

Im Jahr darauf entstand neben einigen Ausflügen in andere Genres (darunter ein Musikvideo, ein Interviewprojekt und einigen Projekten am Theater) der Kurzfilm „Eine feste Burg“ (2010), eine fiktive Geschichte über ein wahres Ereignis im Weimar des Jahres 1988. In dieser Zeit, in der immer mehr Menschen versuchen, die DDR zu verlassen, besetzen zwei Jugendliche die Sakristei der Stadtkirche St. Peter und Paul in Weimar, um ihre Ausreise zu erpressen. Während sie sich im Schutz der Kirche wähnen, liefert sie der Superintendent, wütend über die wiederholte Besetzung seiner Kirche, an die Volkspolizei aus. Auch bei diesem Projekt fand die gruppeninterne Arbeitsteilung in mittlerweile bewährter Weise statt: Hanna Reifgerst und Markus Dietrich schrieben gemeinsam das Drehbuch, Dietrich führte Regie und Christiane Schlicht hat den Film gemeinsam mit Hanna Reifgerst produziert.

Der entstandene Film ist 15 Minuten lang und soll Lust machen auf mehr: er dient auch als Teaser für ein Langfilmprojekt zur gleichen Thematik. Angesprochen darauf, ob die Gruppe Weimar sich nun, nach den ersten fünf Jahren als Produktionsfirma vom Kurzfilm entfernt, antwortet Christiane Schlicht diplomatisch, dass sich die Gruppe natürlich auch für die lange Form interessiert, es aber immer vom Thema und der Zielgruppe abhängig machen wird, wie lang ein Film werden soll. Auf lange Sicht gesehen müsse sich aber an der ausgesprochen problematischen Finanzierungssituation von Kurzfilmen einiges ändern, damit er nicht mehr nur als „Visitenkarten-Film“ begriffen wird. So lange es für Kurzfilmprojekte keine klassische Filmförderung gäbe (mit dem Argument, Kurzfilme seien per se nicht wirtschaftlich auswertbar), seien Produzenten gezwungen, irgendwann zum Langfilm zu wechseln oder ihr Geld mit Imagefilmen oder Dienstleistungsbereich zu verdienen.

Dabei ist gerade im Bereich des Kinderfilms (egal welcher Länge) in Deutschland noch einiges an Entwicklungsarbeit zu leisten und von einem gesättigten Markt kann nicht die Rede sein. Christiane Schlicht wünscht sich deshalb von Förderern und TV-Sendern mehr Mut zum Risiko und zu ungewöhnlichen Stoffen und Herangehensweisen und begründet das damit, dass es doch letztlich immer gerade die ungewöhnlichen Filme seien, die einem im Gedächtnis bleiben, also die Filme die dem Zuschauer auch eine besondere Leistung abverlangen, bei denen er sich anstrengen muss, sei es emotional oder intellektuell. Es mache sie traurig, dass keiner es den Kindern zutraut, sich auf eine ungewöhnliche filmische Erzählung oder auf die besondere Sprache eines Films einzulassen.

Schließlich sei die Kindheit doch gerade die Zeit im Leben, in der sich Geschmack und Vorlieben ausprägen. In dieser Hinsicht könne man den Medienkonsum durchaus mit dem Essen vergleichen. So wie sich Eltern bemühen sollten, ihr Kind von Anfang an mit vielen unterschiedlichen Geschmacksrichtungen zu konfrontieren, um ihm zu zeigen, wie gut Abwechslung schmecken kann, sollten auch TV-Verantwortliche das Ziel haben, möglichst unterschiedliche Arten von filmischer Ästhetik, Erzählweise und Dramaturgie zu fördern und zu zeigen.

Schaut man sich an, welche filmischen Leckerbissen die Gruppe Weimar bisher auf den Tisch gebracht hat, dann lohnt es sich ohne Zweifel, auch den nächsten Gang zu warten.

www.gruppe-weimar.de

Luc-Carolin Ziemann ist Kuratorin, Autorin und Filmvermittlerin, sie lebt und arbeitet in Leipzig.

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