Die Vielfalt widerspiegeln: Deutsche Kurzfilme auf dem Filmfestival von Locarno

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PARADISO XXXI (Palestine/ Germany, 2022), in Competition Pardi di domani: Concorso Corti d’autore © Kamal Aljafari

 

Das Film FestivalLocarno ist für seine spannenden kuratorischen Entscheidungen bekannt und macht auch bei der Auswahl der Kurzfilmsektion Pardi di Domani keine Ausnahme. Wie bereits der Titel andeutet, blickt es in die Zukunft, während das Programmsegment selbst auf der Website des Festivals als „ein Gebiet für ausdrucksstarke Experimente und innovative formale Poesie“ beschrieben wird. Der internationale Wettbewerb innerhalb dieses Programms sucht nach aufstrebenden Filmschaffenden aus der ganzen Welt, um interessante Entdeckungen zu präsentieren, nicht nur in Bezug auf die künstlerischen Qualitäten, sondern auch im Hinblick darauf, dass die präsentierten Werke symptomatisch für unsere Zeit stehen. In dieser Hinsicht passen die drei deutschen Produktionen und Koproduktionen, die im vergangenen August im Rahmen des prestigeträchtigen Concorso internazionale uraufgeführt wurden – Paradiso, XXXI, 108 (Palästina/Deutschland, Regie: Kamal Aljafari), Mother Prays All Day Long (Deutschland, Regie: Hoda Taheri) und Lake of Fire (Deutschland, Regie: NEOZOON) – perfekt zum Programmkonzept, da sie alle direkt oder indirekt das heutige Deutschland, seine soziale Struktur, die multikulturellen Werte, die es verteidigt, und seine allgemeine sozial orientierte Haltung widerspiegeln. Sie wurden von einem palästinensischen und einer iranischen Künstlerin sowie von einem Künstlerduo, das seine Nationalität nicht angibt, geschaffen und bieten ein realistisches Porträt der heutigen deutschen Gesellschaft und verweisen auf die Dynamik des Begriffs der Identität im Allgemeinen.

Auf den ersten Blick lassen sich die drei Filme inhaltlich kaum miteinander in Verbindung bringen, doch was sie definitiv gemeinsam haben, ist die Manifestation eines alternativen Blickwinkels.

In seinem Found-Footage-Stück PARADISO, XXXI, 108 zitiert der in Berlin lebende palästinensische Filmemacher Kamal Aljafari, der gerne Fiktion, Sachbuch und zeitgenössische Kunst miteinander verwebt, wörtlich den gleichnamigen kurzen Essay von Jorge Luis Borges und erschafft eine visuelle Symphonie aus israelischen Militärpropagandabildern aus den 60er und 70er Jahren. Allein der visuelle Aspekt des Films könnte Assoziationen mit einem Videospiel wecken, denn die spielerische Montage lässt das propagandistische Pathos beiseite und zeigt uns Szenen von Männern, die mit Gewehren spielen, ganz einfach so. Kombiniert mit Musik – Händels „Sarabande“ über fast die gesamte Laufzeit und „Stille Nacht“ als Klanguntermalung für eine Sequenz, die Soldaten im Bett zeigt – eröffnet der Film jedoch einen weiten Raum für Interpretationen. Im Gegensatz zu dem, was ein träger Geist von einem palästinensischen Künstler erwarten könnte, der sich mit israelischem Militärmaterial beschäftigt, ist der Film eher verspielt als politisch kritisch. Und tatsächlich, in Anlehnung an Borges‘ philosophische Miniatur über den Verlust der Erinnerung an die körperlichen Merkmale Gottes, so dass sie in jedem sterblichen Menschen frei wiederentdeckt werden können, bringt Paradiso, XXXI, 108 die Wahrnehmung des Zuschauers auf eine andere Ebene, auf der die Täter des Militärs als Mitmenschen gesehen werden könnten, die von ihren jeweiligen Umständen geprägt sind. In jedem Fall nimmt die visuelle Choreographie der Macht – ein Überbleibsel aus dem ursprünglichen Entwurf des Propagandamaterials – hier die Form eines virtuosen Tanzes aus Ton und Bild an, der den politischen Kontext in den Hintergrund treten lässt.

 

LAKE OF FIRE (Neozoon, 2022) in Competition Pardi di domani: Concorso Corti d’autore © Neozoon

 

Der Film LAKE OF FIRE des überaus produktiven weiblichen Kollektivs Neozoon ist eine Abhandlung über die Angst vor dem Tod und die Art und Weise, wie Menschen damit umgehen. Er besteht ebenfalls aus „fertigem“ Material, ist aber anderer Natur. Es ist aus crowd-generiertem Filmmaterial zusammengeschnitten, das mit ausgewählten thematischen Bildern aus der Kulturgeschichte der Menschheit (hauptsächlich dem mittelalterlichen Christentum) interagiert. In einer Reihe von Videoausschnitten verkünden ekstatische Prediger-Gurus die Idee des Sieges über den Tod, während wir daneben weitere ekstatische Menschen sehen, die mit bloßen Händen oder mit Hilfe monströser Maschinen Bäume umstürzen. Dokumentaraufnahmen von Exorzismusritualen und brennenden Wäldern stehen neben Internetreden über die Schrecken der Hölle und Dämonen – tatsächlich findet die Hölle auf Erden im Moment der Naturzerstörung statt. Mit dem Rhythmus und der Plastizität eines Musikvideos, nicht ohne die mächtige Rolle der Filmmusik, bringt Lake of Fire geschickt ein globales Umweltanliegen durch einen ungewöhnlichen Blickwinkel zum Ausdruck, indem er „die fatalen Folgen der anthropozentrischen Religionen für den Planeten Erde“ anprangert, wie es die Künstlerinnen selbst formulieren.

 

MADAR TAMAME ROOZ DOA MIKHANAD (Special Mention, Locarno Pardi di Domani, 2022) © Hoda Taheri

 

Hoda Taheri’s MADAR TAMAME ROOZ DOA MIKHANAD (Mother Prays All Day Long) ist wahrscheinlich das kühnste Beispiel unter den drei besprochenen Arbeiten, da es einen außergewöhnlichen Standpunkt vertritt und darüber hinaus wichtige existenzielle Themen wie ethnische und sexuelle Identitäten, Beziehungen und Mutterschaft behandelt. Als iranische Flüchtlingskünstlerin und Filmemacherin, die in Berlin lebt, nutzt Taheri mutig die Gelegenheit, in ihrer zweiten Heimat Deutschland einen offen erotischen Film zu drehen, der zudem eine autobiografische Doku-Fiktion ist: Die „Schauspielerinnen“ im Film sind ihre deutschstämmige Co-Autorin Magdalena Jacob, Taheri selbst und ihre realen Mütter, die alle ihre tatsächlichen Persönlichkeiten auf der Leinwand verkörpern. In den Anfangs- und Schlussszenen sind Vaginas in Großaufnahme zu sehen, und die beiden jungen Frauen hängen die meiste Zeit des Films nackt herum, während sie miteinander und mit ihrenjeweiligen Müttern über Lebensfragen diskutieren: illegale Abtreibung im Iran und Scheinheirat in Deutschland, eine Schwangerschaft aus einer früheren Beziehung und obskure Pläne für die Zukunft. Die deutsche und die iranische Realität werden über ein Skype-Gespräch miteinander konfrontiert, aber sie prallen in der Wahrnehmung der jungen Frauen und in ihrem nahen Umfeld nicht unbedingt aufeinander. Nicht gesellschaftliche Vorurteile oder familiäre Spannungen (beide Mütter scheinen liberal und verständnisvoll zu sein), sondern die Entscheidungen über das weitere Vorgehen könnten das Zusammenleben der beiden Frauen letztlich behindern. In dieser Hinsicht deutet „Mother Prays All Day Long“ auf subtile Weise an, dass Lebensdilemmata nicht einfach sind, selbst wenn die Außenwelt unterstützend wirkt, da die Verantwortung erst noch getragen werden muss.

Originell, vielseitig und kosmopolitisch – die drei deutschen Kurzfilme, die im Rahmen der 75. Ausgabe des Filmfestivals Locarno gezeigt wurden, scheinen vor allem die bunte Kunstszene Berlins widerzuspiegeln und beweisen damit einmal mehr die viel gerühmte Offenheit der Stadt für unterschiedliche kreative Perspektiven.

 

[1] Die wörtliche Übersetzung von „pardi di domani“ aus dem Italienischen lautet „Leoparden von morgen“.

siehe auch unser Beitrag  Wir glauben an den Kurzfilm