Dicht/Vorm: Animationsfilm trifft Dichtkunst

Thema

Der folgende Artikel stellt ein sehr interessantes Projekt vor, das in den Niederlanden entwickelt und in Belgien adaptiert wurde. ‚Dicht/Vorm‘ ist ein Cross-over-Projekt zwischen Lyrik und Animationsfilm, in dem Filmemacher eingeladen wurden ein Gedicht ihrer Wahl filmisch zu bearbeiten.

Der Artikel erschien zuerst in niederländischer Sprache auf unserer belgischen Partner-Plattform www.kortfilm.be. In ihrem Beitrag stellt Ils Huygens, Redakteurin bei kortfilm.be, das Projekt und seine Entstehung vor. Sie erörtert und dokumentiert dabei insbesondere auch Fragen und Aspekte, die sich aus der Konfrontation von Filmemachern und Dichtern, ergaben und in einer Podiumsdiskussion beim Animafestival in Brüssel von den Beteiligten aufgeworfen wurden.

 
Dicht/Vorm: Niederlande

Dicht/Vorm ist eine Plattform für die kreative Begegnung von Lyrik und Animationsfilm. Dicht/Vorm lädt Animationsfilmemacher ein sich von einem Gedicht zu einer visuellen Antwort anregen zu lassen. Das Konzept wurde ursprünglich von IL Luster entwickelt – einer niederländischen Produktionsfirma, die sich auf Animationsfilme hoher Qualität spezialisiert hat. Das Dicht/Vorm Projekt von IL Luster umfasst zwei Filmreihen kurzer Animationen, die jeweils zwei Minuten lang sind. Im Mittelpunkt der ersten Reihe ‚Modern‘ stehen zeitgenössische niederländische Gedichte, während in der zweiten Serie ‚Klassiekers‘ zehn Glanzlichter aus der Geschichte der niederländischen Dichtkunst visualisiert wurden. Für die Klassiker-Reihe wurden die Filmemacher gebeten sich auch vom Stil und vom Kontext der Bildenden Kunst der betreffenden Zeit inspirieren zu lassen.

Dicht/Vorm hat nicht nur bezüglich der Begegnung der Medien Film und Lyrik einen multi-medialen Charakter, es verwendet darüberhinaus auch verschiedene, neue technische Formate. Die Filme können alle vollständig auf der Website www.dichtvorm.nl gesehen oder via Podcast abonniert werden. Auf der Website findet man zusätzlich Hintergrundinformationen zu den Filmen, deren Macher und über die Gedichte und Dichter. Die beiden Filmreihen werden im übrigen auch auf DVD verbreitet.

Das Projekt Dicht/Vorm dient außerdem pädagogischen Zwecken. So wurde für beide Filmserien Unterrichtsmaterial entwickelt, das den DVDs beigepackt ist. Das Projekt ist dank seines Cross-Over-Ansatzes für unterschiedliche Themen und Annäherungen offen (z.B. Literatur, Animationsfilm, Kunstgeschichte, Trickfilmtechniken). Das Hauptanliegen ist die Diskussion, die Meinungsbildung in Stilfragen und das Anregen von Gesprächen über die möglichen Interpretationen eines Gedichtes. In den Niederlanden war das Unterrichtsmaterial sehr populär und im Jahr 2004 wurde die Modern-Serie mit der Comenius-Medaille für das beste europäische edukative Medienprojekt ausgezeichnet.

Was die Filme angeht, so gehen sie weit Über ihren rein erzieherischen Wert hinaus. Die Konfrontation von Wort und Bild resultiert in vielfältigen filmischen Annäherungen, mal mehr und mal weniger frei und originell interpretierend. Auch führte der Anspruch die ganze Bandbreite der Animationstechnik einzusetzen zu einem Äußerst vielfältigen Ergebnis.

 
Dicht/Vorm: Belgien

Bei der in Brüssel ansässigen Produktionsfirma S.O.I.L., die bereits in der Vergangenheit mit dem niederländischen Partner Il Luster zusammengearbeitete, wuchs die Idee heran ein ähnliches Projekt in Flandern zu starten. Dort verfolgte man jedoch ein etwas anderes Konzept: zum Einen wollte man insbesondere jungen Animatoren eine Chance geben, zum Anderen bestand der Anspruch einen repräsentativen Überblick über die flämische Dichtkunst zu bieten. Und natürlich galt es gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf beide Medien – den Animationsfilm und die Dichtkunst – zu lenken.

Die flämische Filmreihe wurde im Dezember 2006 beim Internationalen Kurzfilmfestival in Leuven veröffentlicht und war später auch beim Anima-Festival in Brüssel zu sehen. Auch wurden kürzlich einige der Filme für das Programm des Trickfilmfestivals in Annecy 2007 ausgewählt.

 
Niederlande vs. Belgien

Für das flämische Projekt wurde der belgische Literaturwissenschaftler und Dichter Geert Buelens gebeten eine Vorauswahl zeitgenössischer Lyrik aus Flandern zu treffen. Dafür wurden ihm zwei Richtlinien mitgegeben: die Autoren sollten nicht älter als 50 Jahre alt sein und die Auswahl sollte die Vielfalt der flämischen Lyrik-Szene widerspiegeln. Anschließend wurden alle Animationsfilmemacher, die in den letzten fünf Jahren ihr Studium abgeschlossen hatten, kontaktiert. Das Projekt wurde ihnen auf gemeinsamen Treffen in verschiedenen Städten vorgestellt. Den Filmemachern, die sich interessierten, wurden alle hundert ausgewählten Gedichte – ohne die Namen der Autoren zu nennen – mitgegeben, um für sich ein Gedicht auszusuchen.

Konzeption und Kontext des flämischen Projekts unterscheiden sich deutlich von dem niederländischen. Schon die Dichtkunst der beiden Länder ist sehr verschieden. Die moderne niederländische Lyrik zeichnet sich durch ihren performativen Gehalt aus, der stark von der Cabaret-Kunst beeinflußt ist und das Wechselspiel von Wort und Klang betont. Flandern hingegen hat eine stärkere kathartisch-existentielle Tradition. Laut dem Dichter Marc Van Tongele* ist die performative Lyrik – obwohl sie unter dem Einfluß von Paul Van Ostaijen zeitweise en vogue war – mit ihrer Dynamik und Direktheit kaum zur zeitgenössischen flämischen Dichtung durchgedrungen.

Zunächst galt es das Problem zu bewältigen, dass die Dichtkunst in Flandern – in den Worten von Tom Van de Voorde vom Vlaams Fonds voor de Letteren, -ein etwas ‚angestaubtes‘ Image hat. In den Niederlanden hingegen hat es mehr Initiativen gegeben, Lyrik der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht haben. So gab es, zum Beispiel, ein Projekt bei dem Gedichte auf Wagen der Müllabfuhr gemalt wurden. Aber solche Ideen können schnell auch zu einer übertriebenen Popularisierung mit Events wie ‚Dichter des Vaderlands‘ oder ‚Dag van de Poí«zie‘ führen. In Flandern sind solche Initiativen noch selten, obwohl bereits leichte Veränderungen spürbar sind. Als Beispiel genannt werden kann die Einführung von Beiträgen wie ‚Vrienden van de Poí«zie‘ (Freund der Poesie) in der populären Fernsehsendung ‚Man Bijt Hond‘ (Mann beißt Hund). Zweifellos können Projekte wie Dicht/Vorm aber diesbezüglich zu einer weiteren Öffnung führen.

 
Konfrontation zwischen Dichter und Filmemacher

Eine der Schwierigkeiten der Dicht/Vorm-Reihe zu zeitgenössischen Gedichten ist, daß sie mit Werken von lebenden Autoren arbeitet. Die ‚Qualitätskontrolle‘ ist dabei umso wichtiger aber auch schwieriger. Die Dichterin Jo Govaerts bekennt, dass sie hiervor auch ein bißchen Angst hatte: „Film ist ein so ganz anderes Medium, dass ich selbst nicht viel dazu sagen kann; hätte mir der Film aber nicht gefallen, so wäre ich doch unglücklich gewesen.“ Aber sie gibt zu, dass sie dann von dem Ergebnis angenehm überrascht war. „Ich war von dem Film und der ausgeklügelten Interpretation des Gedichtes begeistert. Ich wäre selbst nicht auf diese Bilder gekommen und dennoch sind sie eine perfekte Übersetzung meiner Gedanken … die Nuancen, die darin enthalten sind, sind auch jene, die ich übermitteln wollte. Gleichzeitig bleibt es doch etwas anderes, da der Film ein so ganz anderes Medium ist.“

Es kann aber auch ganz anders ausgehen – in dem Sinn, daß ein Filmemacher eine Interpretation liefert, die überhaupt nicht mit der Intention des Dichters übereinstimmt. Sollte das ein Problem darstellen? Nicht für Geert Van Goethem, dem Produzenten von S.O.I.L., weil genau die Autonomie des Filmemachers in diesem Prozess wichtig ist und für einen notwendigen sicheren Abstand sorgt.

Von Seiten der Filmemacher meint der Animationsfilmemacher Wouter Sel, dass die Teilnahme an dem Projekt seiner eigenen Arbeit eine neue Dimension eröffnet habe. In der Ausbildung zum Animator würde beim Animationsfilm sehr viel Wert auf die Narration gelegt: ihr habt eine Figur in einer Situation, was macht ihr daraus? Bei Dicht/Vorm lernte er, dass es auch anders geht, dass man von einem Bild ausgehen kann, um daraus die selbe Frage zu stellen.

Der Dichter Marc Van Tongele, hingegen, stellte die Frage, ob das Konzept nicht durch eine andere Arbeitsweise interessanter geworden wäre. Nämlich nicht von einem literarischen Text auszugehen, den dann jemand bebildert, sondern von Anfang an Dichter und Filmemacher zusammenarbeiten zu lassen. Nach Van Tongele wäre dann die Diskrepanz zwischen Wort und Bild nicht so ins Gewicht gefallen und wären größere Freiräume entstanden. Seine Kollegin Jo Govaerts wendet aber dagegen ein, dass dies bei ihr nicht funktioniert hätte: „Wäre ich an der Filmherstellung beteiligt gewesen, wäre das nicht gut ausgegangen. Wenn man einen Dichter und einen Filmemacher zusammenarbeiten läßt, bekommt man statt eines starken Films und eines starken Gedichts zwei Kompromisse.“ Wouter Sel bestätigt dies. Für ihn als Filmemacher sei es wichtig gewesen, sich das Gedicht selbst aneignen zu können ohne gleich die Sicht des Autoren aufgedrängt zu bekommen. Eine solche Kooperation würde sicher zu „einer labilen Symbiose“ führen.

 
Konfrontation zwischen Word und Bild

Viele der Filme lassen sich sehr stark vom Wort leiten und versuchen den Text des Gedichts im Film einzubauen, manchmal um jeden Preis. Einige Filme tun dies jedoch bewußt nicht (wie zum Beispiel ‚Adembeneming‘) und vielleicht führt genau dies zu einer wirklich interessanten Konfrontation, zumal man dann als Zuschauer nicht mehr so stark auf die Sprache fokussiert. Es sind ja auch in einem Gedicht nicht die Worte allein, die es ausmachen. Rhythmus, Komposition, Klangfarbe und Stimmung gehören dazu und sind Elemente, mit denen allerdings auch der Filmemacher spielen kann. Trotzdem ist das Konzept der ‚illustrierten Gedichte‘ ein Problem bei einigen der Filme gewesen. Insbesondere in der Filmreihe Niederländische Klassiker war dies spürbar, besonders dann, wenn der Text als Off-Ton zum Bild zu hören war.

Andererseits gab es in der Klassiker-Reihe auch einige überraschende Interpretationen, die nicht aus den Gedichten selbst, sondern aus externen Quellen und Kenntnissen stammten. Zum Beispiel bei dem Film zu ‚Zie je ik hou van je‘ (Sehe Dich, Ich liebe Dich) – ein scheinbar rein romantisches Gedicht. Doch der Filmemacher hat es als Ausdruck einer Obsession überarbeitet, da er aus seiner Recherche wußte, dass der Autor im späteren Leben wahnsinnig geworden ist. Dies führt zu einem gewissen Kontrast, der an und für sich sehr interessant sein kann. Il Luster erklärt die Dominanz des Textes in der Klassiker-Reihe auch mit dem anderen, erzieherischen Ziel. Während die Modern-Reihe spielerische Diskussionen auszulösen beabsichtigte, lag der Schwerpunkt der Klassiker-Reihe bei der Vermittlung von Kenntnissen über die Zeit und das Umfeld von Gedicht und Dichter. Zu den Aufgaben gehörte auch das Interesse an der niederländischen Lyrik- und Kunstgeschichte zu wecken, zwei Disziplinen, die in den gegenwärtigen Lehrplänen der Niederlande etwas vernachlässigt werden.

Ein andere Schwierigkeit bei der Begegnung von Dichtung und Film ist die Macht der Bilder. Während Filmemacher Bilder gestalten, um bestimmte Vorstellungen beim Zuschauer hervorzurufen, arbeitet der Dichter mit Worten, um bestimmte Bilder hervorzurufen. Ein Gedicht läßt dem Leser mehr Raum für seine Imagination, während die Filmbilder die Interpretation zu kontrollieren versuchen. Man denke nur an Literaturadaptionen im Kino. Der Film dominiert sehr schnell die Vorstellungswelt eines Buches und unsere Fantasie passt sich den auf der Leinwand gesehenen Bildern an. Bei einem Gedicht muss der Leser seine eigene Kreativität einbringen und wird zum Mitwirkenden. Laut Jo Govaerts erfordert die Poesie auch eine andere Einstellung: „Manche Menschen brauchen keine Illustration, andere schon“. Das läge daran, dass das Wort der Imagination mehr Freiheit lasse, und nach ihrer Ansicht deshalb viel stärker sei als ein Bild.

S.O.I.L betrachtet hingegen die visuelle Übersetzung eines Gedichtes als eine gewisse Befreiung, in dem Sinne, dass eine bestimmte Interpretation zu weiteren, anderen Interpretationen anregt. Aus der pädagogischen Sicht des Projekts weist S.O.I.L. darauf hin, dass jeder Film nur eine von vielen möglichen Lesarten zeigt. Tom Van de Voorde wendet dagegen ein, dass der befreiende Effekt nicht wirklich in beide Richtungen wirke. Denn, wenn man nach dem Sehen des Films zum Text zurückkehre, sei es schwer die gesehenen Bilder aus dem Gedächtnis zu löschen.

 
Multidisziplinär? Gerne! (Aber wer bezahlt?)
Ein anderer Aspekt, der im Zusammenhang mit dem Projekt Dicht/Vorm zum Vorschein kam, ist das Unvermögen der zuständigen Institutionen und Behörden mit dem aktuellen Trend zum Multidisziplinären in der zeitgenössischen Kunst und die ihn umgebende Theoriebildung umzugehen. Die Vlaamse Gemeenschap (Flämische Gemeindeverwaltung) stimuliert zum Beispiel diese Art multimedialer Cross-Over-Projekte, doch wenn es um konkrete Förderanfragen geht, steht man schnell vor unüberwindbaren Hürden. Der Fonds voor Letteren (die flämische Literaturstiftung), zum Beispiel, war an dem Projekt sehr interessiert, konnte aber administrativ einfach nicht damit umgehen, weil sich der Fonds genaugenommen nur mit ‚literarischen Werken‘ und nicht mit Kino befasst. Das einzige, was sie tun konnten, war die Förderung einer Übersetzung der Gedichte, so dass das Projekt auch im Ausland gefördert werden kann. Aber eine echte umfassende Förderung war aus strukturellen Gründen nicht möglich. Für den VAF (Flemish Audiovisual Fund) war es hingegen kein Problem das fertige Produkt zu fördern, denn das waren in der Tat Filme. Doch wies S.O.I.L. daraufhin, dass für eine Weiterentwicklung des Projekts eine bessere, auch strukturell multidisziplinäre, Unterstützung notwendig ist und sie nicht wissen, an wen sie sich wenden können. Entweder gehört man zum Bereich der Audiovisuellen Künste, zu den Darstellenden Künsten oder zur Literatur. Eine solche Aufteilung ist aber in der zeitgenössischen Kulturlandschaft nicht tragbar und wirkt letztlich sehr kontraproduktiv. Aber diese Diskussion ist an anderer Stelle zu führen …

Ils Huygens (Redaktionsleiterin kortfilm.be, Brüssel)

*Alle Zitate wurden während einer Diskussion über das Dicht/Vorm-Projekt aufgezeichnet, die im Februar 2007 während des Animafestivals in Brüssel stattfand.

Die Diskussion wurde von Walter Provo (IAK) moderiert und die Teilnehmer waren die Produzenten Geert Van Goethem (S.O.I.L.), Arnoud Rijken und Michiel Snijders (Il Luster), Tom Van de Voorde (Leiter der Abteilung für Dichtkunst beim Vlaams Fonds voor de Letteren) sowie die Filmemacher Wouter Sel und Kris Genijn (Flanders), Sander Alt und Lucette Braune (Niederlande)

Quelle des Originalbeitrags: kortfilm.be
Dicht/Vorm
Il Luster
S.O.I.L.

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