Daniel Nocke

KEIN PLATZ FÜR GEROLD © Studio FILM BILDER

KEIN PLATZ FÜR GEROLD © Studio FILM BILDER

Daniel Nocke ist ein Exot in der deutschen Kurzfilmlandschaft. Der gebürtige Hamburger hat sich in den letzten zehn Jahren sowohl mit seinen Animationsfilmen als auch als Drehbuchautor für lange Kino- und TV-Spielfilme einen Namen gemacht.

Bemerkenswert an dieser Konstellation ist nicht nur die ungewöhnliche Kombination der beiden Gewerke Animation und Drehbuch oder die Tatsache, dass Daniel Nocke sich sowohl im Kurzfilm- als auch im Langfilmbereich etabliert hat. Nockes Filme zeichnen sich stets – egal ob er „nur“ das Drehbuch beisteuert oder bei seinen Animationsfilmen als Regisseur für den gesamten Produktionsprozess verantwortet – durch äußerst vielschichtige Geschichten und komplexe Charaktere aus. Trotzdem (oder gerade deshalb?) wird er nicht nur in Fachkreisen hoch gelobt, sondern begeistert auch immer wieder ein Massenpublikum.

Sein zuletzt entstandener Animationsfilm „Kein Platz für Gerold“ (2006) läuft äußerst erfolgreich auf den internationalen Kurzfilmfestivals. Die beiden Kinofilme „Sie haben Knut“ (2003) und „Sommer ´04“ (2006), die Nocke mit seinem langjährigen Partner Stefan Krohmer als Regisseur entwickelte, erhielten sowohl von der Filmkritik als auch vom Publikum viel positive Resonanz.

Nicht viele Kurzfilmemacher genießen eine so breite Akzeptanz in den verschiedenen Bereichen der Filmbranche. Speziell in Deutschland werden Filmemacher gerne gleich nach der Filmhochschule in eine Schublade auf Lebenszeit gepresst, egal ob sie passt oder nicht. Der mit drohenden Unterton repetierte Merksatz: „Einmal Fernsehen, immer Fernsehen!“ klingt vielen Hochschulabsolventen bis heute in den Ohren. Von der angemahnten Festlegung auf ein bestimmtes Genre und Format (z.B. Lang- oder Kurzfilm, Animation, Dokumentar- oder Spielfilm) ganz zu schweigen. Jeder Nachwuchsregisseur kennt die immer gleiche Mahnung, ein klares Profil zu entwickeln.

Daniel Nocke wusste bereits vor Beginn seines Studiums an der Filmakademie in Ludwigsburg genau, wie sein Profil aussehen sollte. Er bewarb sich Ende der 90er Jahre zwar zunächst für den Animationsbereich, hegte aber von Anfang an den Plan, sich auch als Drehbuchautor ausbilden zu lassen. Diese Kombination ist für Nocke selbst völlig folgerichtig: beide Berufe, der des Animationsfilmers und der des Drehbuchschreibers, sind für ihn im Großen und Ganzen „einsame“ Tätigkeiten, die zwar in die typische arbeitsteilige Organisationsstruktur der Filmarbeit eingebunden sind, bei denen man allerdings im kreativen Prozess weitgehend für sich arbeitet.

Dass diese ausgesprochene Vorliebe für die Arbeit in Abgeschiedenheit nichts mit mangelnder Teamfähigkeit zu tun hat, beweist Nocke seit Jahren durch die enge und kontinuierliche Kooperation mit verschiedenen Kollegen, allen voran Stefan Krohmer, den er gleich in seinem ersten Semester an der Filmakademie kennen lernte. Nach der ersten „erzwungenen“ Kooperation („Wir sind uns zugelost worden“) erkennen beide schnell, wie gut ihre Interessen zueinander passen. Sowohl Nocke als auch Krohmer begeistern sich für Stories, in denen letztlich normale Menschen mit den großen und kleinen Katastrophen des Lebens umgehen, scheitern, wieder aufstehen und sich ein ums andere Mal die Nase an der gleichen Ecke blutig stoßen. Beide haben unverkennbar ein Faible für Geschichten aus dem bildungsbürgerlichen Milieu und es macht großen Spaß, ihnen dabei zuzusehen, wie sie die wohl gehüteten Fassaden von Anständigkeit, intellektuellem Anspruch und Überheblichkeit genüsslich, aber ohne Schadenfreude Stück für Stück abtragen.

In „Familienkreise“ (2002), einem ihrer ersten gemeinsamen Fernsehfilme, verstrickt sich der sympathische Diplomatensohn Christopher, der zum Schlichten einer Familienkrise zurück ins Elternhaus gekommen war, selbst nach und nach in einem undurchdringbaren Geflecht aus Betrug und Lügen. Und das, obwohl er immer nur das Beste für alle wollte. Selten wurde der Terror der Selbstlosigkeit genauer seziert und schöner persifliert. Man kommt nicht umhin, in den Mitgliedern dieser gut situierten Mittelstandsfamilie immer wieder Nachbarn, Freunde und Eltern zu erkennen – und manchmal auch sich selbst. Auch in „Sie haben Knut“ (2003) und „Sommer ´04“ (2006), den bisher einzigen Kinofilmen des Duos Nocke/Krohmer ist es der stetig schwelende Deja-vu-Effekt, der ihre Arbeiten vom großen Rest der deutschsprachigen Filmlandschaft abhebt.

Nockes genaue Dialoge bezeugen, dass hier ein Autor am Werk war, der ein geradezu manischer Zuhörer mit einem fantastischen Gedächtnis sein muss. Am Anfang eines jeden neuen Drehbuchs steht der Versuch, spezifische Stimmungen auszudrücken, sie für den Zuschauer nachfühlbar zu machen; die eigentlichen Geschichten werden erst nach und nach um diese Kernstimmungen herum angelegt. Seine Inspirationen findet er im täglichen Leben – wobei es selten die Plots sind, die eins zu eins aus der Realität transponiert werden, sondern eher ein bestimmter Tonfall, eine charakteristische Geste oder ein prototypischer Dialog zwischen einem zerstrittenen Paar, der sich viel später in einem Buch wieder findet.

Dieser Arbeitsprozess funktioniert bei seinen Animationsfilmen ganz ähnlich. Im Zentrum stehen auch hier die Dialoge, über die ein bestimmtes Gefühl transportiert werden soll. Die Entscheidung für eine bestimmte Animationstechnik ist dagegen, anders bei vielen anderen Trickfilmern, für Nocke nur sekundär. Bei ihm bestimmt der Stoff die Form und nicht umgekehrt. Bis auf wenige Ausnahmen (z.B. seinen visuell sehr zurück genommenen selbst gezeichneten Schwarz-Weiß-Film „Die Fischerswitwe“ von 1994) verwirklichte er seine Animationsfilme bisher weitgehend mit der Knetanimationstechnik, die zwar recht arbeitsaufwändig, aber – zumindest bei kurzen Filmen – mit einem kleinen Team zu bewältigen ist.

Daniel Nocke sprengte den Rahmen des klassischen (kurzen) Animationsfilms allerdings bereits mit seiner ersten Knetanimation „Der Peitschenmeister“ (1998). Der an der Filmakademie Ludwigsburg entstandene Animationsfilm erreicht mit 58 Minuten fast Spielfilmlänge und wurde mit einem großen Team inklusive Komponist und Filmorchester in Szene gesetzt. Im Stile eines Musicals inszeniert Nocke hier ein mittelalterliches Drama um Politik, Revolution und Gerechtigkeit, das von seinen Dialogen her aber auch direkt aus dem Jahr 1972 stammen könnte.

Im Mittelpunkt steht der Peitschenmeister Carlos, der sich mit Herz und Seele der Beaufsichtigung der versklavten Arbeiter verschrieben hat. Bald beginnt er jedoch selbst am System zu zweifeln. Zu spät, denn die Arbeiter haben im Verborgenen längst den Aufstand geplant. Nach der Revolution bleibt Carlos nichts als die Flucht in die Berge (natürlich – wie sollte es anders ein – mit der von ihm verehrten Förstentochter im Schlepptau, die ihn bisher keines Blickes gewürdigt hat).

In der Burg regiert derweil der revolutionäre Mob, verurteilt seine ehemaligen Peiniger in Schnellprozessen („Macht mal los, wir haben heute noch was Anderes zu tun!“) und schafft es in kürzester Zeit, die eigenen hehren Ziele ad absurdum zu führen. Die Zuschauer werden Zeugen einer Blaupause aller Revolutionen seit 1789. Im Laufe der Handlung wird – auf sprachlich höchstem Niveau – jede revolutionäre Alternative durchdekliniert: vom Marsch durch die Institutionen über den Weg in den Untergrund und bis zur Frage, ob man die eigenen revolutionären Ziele verrät, wenn man die Strukturen des alten Systems nutzt.

Obwohl der „Peitschenmeister“ mit einem stimmigen visuellen Konzept, der ungewöhnlichen Umsetzung als Musical und einer schönen, detailgetreuen Charakteranimation aufwarten kann, sind es nicht diese „handwerklichen“ Stärken, die den Film so außergewöhnlich machen, sondern die prägnanten Dialoge, bzw. das Aufeinanderprallen der absolut realistischen Sprache mit den fast niedlich anmutenden knollennasigen Figuren in Knetanimationstechnik, denen man eher kindliche Guttural-Laute denn revolutionäre Phrasen mit drei angehängten Relativsätzen zutraut. Theoretisch hätte man die Dialoge des Drehbuchs durchaus von professionellen Schauspielern sprechen lassen können (was bei den meisten anderen Animationsfilmen eher zum Slapstick taugen würde). Doch erst der Clash zwischen den sehr präzisen, möglichst naturalistisch gesprochenen Spielfilmdialogen und der kindlich anmutenden Animationstechnik verleiht dem „Peitschenmeister“ seine ganz besondere Prägung.

In den folgenden Jahren hat Nocke diese Konfrontationstechnik noch verfeinert und dafür in der „Trösterkrise“ (1999) zunächst die Spezies des wohlmeinenden, aber eigentlich vollkommen unsensiblen Gutmenschen aufs Korn genommen, der – ausgestattet mit einer gehörigen Portion Egozentrik – all den armen Kreaturen helfen will, die es scheinbar nicht so gut getroffen haben, wie er selbst. Hier gelingt es Nocke mit Hilfe eines minimalistischen Sets aus fünf Knetfiguren in nur sieben Minuten, sowohl die Problematik des seelisch verkrüppelten Aushilfspsychologen relativ umfassend zu beleuchten, als auch manchen Lacher zu entfesseln, der einem dann bitterlich im Hals stecken bleibt, weil man plötzlich über eine Phrase stolpert, die auch im eigenen Vokabular vorkommt.

Nocke spielt und spricht in diesem (wie in vielen anderen, auch Spiel-) Filmen eine der Figuren selbst und stattet den hauptamtlichen Tröster gekonnt mit gerade soviel Überheblichkeit wie echtem Engagement aus, dass es dem Zuschauer genauso schwer fällt, den Kerl ins Herz zu schließen, als ihn ausschließlich zu belächeln.

Schwarz-Weiß-Malerei ist seine Sache ohnehin nicht. Es kommt so gut wie nie vor, dass man sich mit einer der Figuren ernsthaft identifizieren möchte. Selbst wenn hier und da viel versprechende Kandidaten auftauchen, so dauert es meist nicht lange, bis die Figuren sich gründlich selbst diskreditieren, richtig sympathisch ist eigentlich nur ein Mitglied des Knetuniversums.

Den archaischen Protagonisten seines 2002 entstandenen Films „Der moderne Zyklop“, der in der Jetztzeit in einer sizilianischen Höhle als Touristenattraktion sein Geld verdient, stattet Daniel Nocke ausschließlich mit den bestmöglichsten Attributen aus. Sein einäugiger Riese ist ein bescheidener Dichter und Denker, der auch auf die unverschämtesten Touristenfragen immer eine höfliche Antwort parat hat und sich für Ackerbau, Lyrik und Ausdruckstanz begeistert. Natürlich dauert es nicht lange, bis eine der Pauschaltouristinnen feststellt, dass ihr dieser sensible, muskelbepackte Zwei-Meter-Mann besser gefällt als ihr eigener Hosentaschenmacho. Glücklicherweise findet sich – ganz nach althergebrachter Überlieferung – auch für dieses Problem eine Lösung. Nockes brandaktueller Abstecher in die Welt der Mythen und Sagen begeisterte die Zuschauer. „Der moderne Zyklop“ entwickelte sich zu einem internationalen Dauerbrenner, der bis heute regelmäßig auf Festivals gezeigt wird.

Daniel Nocke ist ein begeisterter Festivalgänger und liebt das Feedback, auch wenn sich die Zuschauer meistens vor allem für die technischen Details interessieren und gerade das der Bereich ist, der er am ehesten an Mitarbeiter delegiert. Im Mittelpunkt seiner Filme – egal ob Animationsfilme oder Spielfilme, steht immer der Inhalt. Erst wenn das Thema fest steht, klärt sich die Frage, in welcher Form es verwirklicht wird. Und obwohl Daniel Nocke inzwischen für viele schon zum Knetspezialisten geworden ist, ist er für Alternativen immer offen.

Ein gutes Beispiel dafür ist die WG-Komödie „Kein Platz für Gerold“ (2004), der vorerst letzte Animationsfilm aus dem Hause Nocke. Hier erkundet er mit der Hilfe von Spezialisten erstmals die Möglichkeiten der digitalen Computeranimation. Gemeinsam entwerfen sie die tierischen Charaktere und bringen sie nach seinen Vorgaben zum Sprechen. Die skizzierte Situation kennt wohl jeder, der einmal in einer Wohngemeinschaft gelebt hat: das Krisengespräch am Küchentisch. Hier diskutieren die Mitbewohner mit dem Krokodil Gerold minutenlang über sein Zu-Spät-Kommen und den daraus ersichtlichen fehlenden Respekt für die Gruppe, bis endlich einer damit raus rückt, worum es eigentlich geht. Gerold soll ausziehen, besser heute als morgen und wenn möglich ohne weitere Diskussionen. Zu allem Überfluss filmen sich die Mitbewohner auch noch mit ihrer Videokamera gegenseitig, um sich später beweisen zu können, dass der Rausschmiss eigentlich gar keiner war und alles fair vonstatten gegangen ist.

Den Kniff mit der Aufzeichnung per Home-Video nutzt Nocke nicht nur, um die absurden Diskussionsallüren der Mitbewohner dramaturgisch noch ein bisschen zuzuspitzen, sondern vor allem, um den allzu glatten computeranimierten Bildern wieder ein wenig von ihrer Perfektion zu nehmen. Am Ende sucht das Krokodil entnervt das Weite und der Zuschauer fühlt sich auf ungute Weise an die eigenen WG-Erfahrungen erinnert.

Es wäre völlig sinnlos, den gleichen klein karierten Dialog mit Schauspielern inszenieren zu wollen, weil sich die Realität hier nur mehr verdoppeln würde – und wer will das schon sehen? Genau andersherum verhält es sich mit der abgedrehten Geschichte vom letzten Zyklopen. Dieses Drehbuch hat der mehrfache Grimme-Preisträger Daniel Nocke mal zum Spaß genau den Redakteuren, die sonst seine (Spielfilm-)Arbeiten produzieren, als Script angeboten – wohlgemerkt ohne einen Hinweis darauf, dass die Geschichte als Animationsfilm geplant ist. Das Angebot blieb bisher ohne Resonanz.

Daniel Nockes Schluss daraus ist so einfach wie richtig: Manche Geschichten lassen sich nur als Animationsfilm erzählen, andere verlangen nach „echten“ Menschen, die weder geknetet noch computeranimiert werden können.

So wird Daniel Nocke weiterhin als einer der wenigen erfolgreichen Grenzgänger zwischen Kurz- und Langfilm seine fantastischen Geschichten erzählen und dafür weiterhin mit schlafwandlerischer Sicherheit immer das passende Format wählen.